FITUG e.V.

Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft

Cyberpornographie: Chronologie einer Hexenjagd

Kaum zu glauben: Der momentane Medien-Hype über Pornographie im Internet, der nun auch die 200 von CompuServe gesperrten Usenet-Gruppen zum Opfer gefallen sind, basiert in erster Linie auf einem schlampig geschriebenen Artikel von TIME-Autor Philip Elmer-Dewitt über die Studie "Marketing Pornography on the Information Superhighway" von Martin Rimm (Carnegie Mellon University):

Am 26. Juni 1995 erreichte die Debatte um Pornographie auf der internationalen Datenautobahn Internet in den USA ihren vorläufigen Höhepunkt: Der amerikanische Senator Charles Grassley verteidigte seinen Antrag auf Zensur des Internets mit den Worten: Herr Präsident, es gibt einen Artikel im Time-Magazin, den ich gerne dem Protokoll dieser Rede beifügen würde... Es gibt eine Studie, erstellt von Wissenschaftlern der Carnegie Mellon Universität... Die Universität begutachtete 900.000 Computerbilder. Von diesen 900.000 Bildern, die im Internet verfügbar sind, waren 83,5 % pornographischer Natur - wohlgemerkt: 83,5 %! Der Kongreß muß angesichts dieser zahlreichen Bilder in verfassungstechnischer Art und Weise handeln... Es gibt eine Flut von widerwärtiger Pornographie und wir müssen handeln, um diese wachsende Flut einzudämmen, weil sie perverse Gedanken erzeugt." Während er die Rede hielt, schwenkte Senator Grassley das aktuelle Time-Magazin durch die Luft. Auf dem Titelbild: Ein Junge, der mit schreckensgeweiteten Augen auf einen Computermonitor starrt. Grassley hatte in erster Linie den Schutz dieser Gruppe vor Augen, als er eine Beschneidung des Internets forderte. Mit dieser Rede setzte eine landesweite Hysterie in Sachen Pornographie im Internet ein. Attackiert wurden hiermit vor allem die Zukunftsvisionen des demokratischen Vize-Präsidenten Al Gore vom alle Schulen verbindenen Computernetz, das endlich auch in den schlechter ausgestatteten Schulen für alle Kinder den Zugriff auf hochwertige Unterrichtsmaterialien ermöglichen soll. Die Hysteriewelle erreichte Ende des Jahres auch Europa.

Der Clou: Die ganze Hysterie basiert auf einem schlampig verfaßten TIME-Artikel, der die Untersuchungsergebnisse einer Studie, die sich auch mit Pornographie im Internet befaßt, stark verzerrt wiedergegeben hat. Der Artikel mit dem Grassley den dringenden Handlungsbedarf dem Präsidenten zu belegen versuchte, hatte schlicht und ergreifend keine faktische Grundlage. Wer ihn nur flüchtig - und hier insbesondere die herausgehobenen Textstellen - las, konnte den Eindruck gewinnen, das Internet wäre vor allem ein riesiger Umschlagplatz von Bildmaterial für Paedophile, sadomasochistische Fesslungskünstler, Faekalienfreunde und Tierliebhaber. Der Autor des TIME-Artikels, Philip Elmer-Dewitt, faßte in erster Linie die Ergebnisse einer Studie des research team at Carnegie Mellon University in Pittsburgh, Pennsylvania" zusammen, die TIME exklusiv zur Verfügung stand. Elmer-Dewitt schreibt in der Einleitung über Bilder, die vom Internet auf die heimische Festplatte gezogen werden können, um dann zu einer ersten Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse zu kommen: Es gibt eine riesige Menge an Pornomaterial online. In einer 18-Monats-Studie, begutachtete das Team 917.410 explizit sexuelle Bilder, Beschreibungen, Kurzgeschichten und Filmclips. In den Usenet-Gruppen, die digitalisierte Bilder beinhalten, waren 83,5 % der Bilder pornographischer Natur." Nun gehören die Usenet-Gruppen tatsächlich zum Internet, aber keineswegs die von ihm erwähnten und als Grundlage der Untersuchung dienenden 917.410 Bilder. Die fanden sich nämlich nicht in den Internet-Usenet-Gruppen - wie der Absatz vermuten läßt -, sondern in von kommerziellen Betreibern angebotenen sogenannten Bulletin-Board-Systemen. Diese BBS-Heimcomputermailboxen kann jeder per Telefon anwählen, sofern er sich denn über eine entsprechende Geldüberweisung und die Hinterlegung einer Ausweiskopie zwecks Altersnachweis das Paßwort für diesen Zugriff verschafft hat. Solche Privatcomputer haben nichts aber auch gar nichts mit dem Internet gemein. Ein Computernetz, das Senator Grassley nach Lektüre des Artikels denn meinte von Hundertausenden von Schmutzbildern reinigen zu müssen. Solche Privatmailboxen sind nicht Bestandteil des Computernetzwerkes Internet, das sich durch ein bestimmtes Datenübertragungsprotokoll definiert. Zwar finden sich tatsächlich in den Internet-Usenet-Gruppen pornographische Bilder, aber es sind verhältnismäßig wenige und der technische Zugriff darauf ist noch immer relativ schwer zu bewerkstelligen. Diese Bilder werden von den Betreibern der BBS unter Einblendung der BBS-Telefonnummer in den Usenet-Gruppen abgelegt, um neue Abonnenenten für ihre BBS zu ködern. Die Gesamtzahl dieser Werbebilder ist gemessen am Gesamtdatenverkehr im Internet zu vernachlässigen: Wie der Autor der Studie selbst ausführt, machen die pornographischen Inhalte in den Usenet-Diskussionsgruppen - in denen in der Regel ein Austausch über Hobbys und wissenschaftliche Fachthemen stattfindet - lediglich 3% aus. Das Usenet selbst umfaßt nur ca. 11,5% des Internets, so daß für pornographische Inhalte gerade mal ein halbes Prozent des gesamten Internetdatenverkehrs übrigbleiben. Das ist weniger Pornographie als an jedem größeren Kiosk zu finden ist.

Die Studie selbst wurde größtenteils von einem Studenten der Carnegie Mellon Universität verfaßt, der bisher noch keinen akademischen Grad besitzt, und keineswegs von einem Wissenschaftlerteam, wie Grassley in seiner flammenden Rede anführte. Nun ist allerdings das Fehlen eines Studienabschlußes selbst noch kein Makel und Rimm selbst beging keineswegs - wie TEMPO-Kolummnist Peter Glaser ausführte - den Kardinalfehler" der Verwechslung von Mailboxen mit dem Internet. Rimm betitelte seine Studie korrekt mit Marketing Pornography on the Information Superhighway". Dieser Superhighway ist keinesweg mit dem Internet identisch. Rimm ordnete diesem Oberbegriff durchaus legitim auch die BBS zu. Der Fehler lag bei Elmer-Dewitt, der sich denn auch in Internet-Diskussionen nach seinem Artikel einiges sagen lassen mußte. So stellte etwa Computernutzer Jon Glass fest: Die Time-Story ist, so wie sie publiziert wurde, ist ein riesiges Geschenk für alle, die das Internet zensieren wollen!" Und Anne Wheeler ergänzte: Schande über dich und TIME, Phil! Du unterstützt mit so einem Fehlwurf wie diesem die Christian Coaltion!" Elmer-Dewitt stellte sich gegen Ende der Debatte selbst resignierend die Frage: Würde ich die Story noch einmal so schreiben, wie ich es getan habe? Nein. Ich wünschte mir, ich hätte damals eine Woche mehr Zeit zum Schreiben der Story gehabt."

Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft, Neko, 1996
webmaster@www.fitug.de