Hauptursache für den Rückgang der Studienanfängerzahlen in natur- und Ingenieurwissenschaftlichen Fächern ist ein Phänomen, das auf den gesellschaftlichen Wandel zurückgeht: mangelnde "Techniksozialisation".
Von Michael M Zwick
Ganze Branchen suchen nach Ingenieuren und Naturwissenschaftlern,
der Arbeitsmarkt scheint leergefegt. Der Grund: Immer weniger Studierende
wählen natur- und ingenieurwissen schaftliche Fächer. In Baden-Württemberg
zum Beispiel nahm die Zahl der Studienanfänger in diesen Fachbereichen
von 1994 bis 1998 im Durchschnitt um etwa 20 Prozent ab. Einige Fächer
sindganz besonders betroffen: So sank die Zahl der Studienanfanger in den
Fächern Physik/Astronomie und Bauwesen um jeweils 32 Prozent, in Chemie
um 30, in Mathematik um 24 und in Elektrotechnik um 21 Prozent. Zudem weisen
diese Fächer hohe Zahlen von Studienabbrechern und -wechslern auf.
Dies ergab eine Studie der Akademie für Technikfolgenabschätzung
in Baden-Württemberg.
Für diese Entwicklung ist ein ganzes Bündel
von Ursachen verantwortlich. Die Hälfte des allgemeinen Studentenschwundes
ist zunächst eine Spätfolge des seit Mitte der 60er Jahre ablaufenden
Geburtenrückgangs. Warum aber sind die meisten natur- und ingenieurwissenschaftli
chen Fächer besonders stark vom Rückgang der Studentenzahlen
betroffen?
Interviews, die wir mit Oberstufenschülern und mit
Studienanfängern der Fächer Bauwesen, Chemie, Betriebswirtschaftslehre
und Germanistik durchführ ten, ergaben: Die Entscheidung zu Gunsten
eines bestimmten Studienfachs beruht insbesondere auf Begeisterung
und Interesse für die Materie. Hingegen werden die vermeintlichen
Arbeitsmarkt- und Karrierechancen kaum berücksichtigt - im Gegensatz
zu der typischen Situation vor einer Generation. Die jungen Leute
haben wahrgenommen, dass auf langfristige Arbeitsmarktprognosen und Karriereversprechen
in der heutigen schnelllebigen Zeit kein Verlass mehr ist und keiner weiß,
wie die Situation nach dem Examen sein wird.
Nur allzu gut ist die einschneidende Entlassungswelle
bei den Ingenieuren zu Beginn der 90er Jahre noch in Erinnerung - sie hat
dem Image dieses Berufsfeldes nachhaltig geschadet. Doch diejenigen, die
sich für einen technischen oder ingenieurwissenschaftlichen Studiengang
entschieden, haben dies trotz Wahrnehmung besonders schlechter Arbeitsmarktchancen
getan! Dies lässt vermu ten, dass auch umgekehrte Kampagnen der Industrie,
wie die gegenwärtige, fast panisch anmutende Suche nach Ingenieuren
und IT-Spezialisten, bei den jungen Menschen nur wenig fruchtet.
Was sollen die Studierwilligen aber tun, wenn der Arbeitsmarkt
keine rationale Berufswahl mehr zulässt? In den 80er Jahren hatte
die Jugend auf schlechte Arbeitsmarktchancen noch mit "'NO future" und
depressivem Kopf-Hängen-Lassen reagiert. Doch diese Zeiten sind passe:
In der Gesellschaft hat ein "postmaterialistischer Wertewandel" die Idee
der persönlichen Selbstverwirklichung ganz nach oben gespült.
Zugleich scheinen sich die jungen Menschen mit der Verkürzung- überschaubarer
Zeiträume und der wachsenden Unkalkulierbarkeit der Zukunft arrangiert
zu haben. Was heute zählt ist "Spaß": Studienfach und Beruf
sollen individuelle Neigungen und Interessen befriedigen, an persönliche
Erfahrungen und Kompetenzen anschließen, abwechslungsreich sein und
langfristig motivieren.
Einkommens- und Karriereaussichten spielen nur eine untergeordnete
Rolle. Die Logikist,aufderGrundlagevonSpaß und Interesse eingerüttelt
Maß an Kompetenzen zu erwerben und sich damit optimistisch dem Arbeitsmarkt
zu stellen, wie immer dieser auch aussehen mag. Dabei setzen die jungen
Leute auf eine möglichst breite, Disziplinen überschreitende
Ausbildung. Sie haben klar erkannt, dass mehr als nur fachspezifisches
Wissen gebraucht wird. Soziologisches Organisations- und psychologisches
Führungswissen sind ebenso gefragt wie EDV- und betriebswirtschaftlicheKenntnisse.
Im Umkehrschluss bedeutet dies dass all jene Studiengänge, die auf
Fach spezialistentum setzen für die jungen Menschen künftig weniger
attraktiv sein werden und mit nachlassender Nachfrage rechnen müssen.
Integrierte Studiengänge, wie etwa die technisch orientierte Betriebswirtschaftslehre
oder Wirtschaftsingenieurwissenschaften liegen hingegen voll im Trend und
verzeichnen einen wahren Nachfrageboom. Allerdings sollte sich die Industrie
erklären, ob und in welchem Ausmaß Stellen für diese Generationen
zur Verfügung stehen werden
Die oft zitierte Technikfeindlichkeit spielt keine Rolle,
im Gegenteil: Gerade für die Jugend sind Autos und Mobiltelefone zu
Prestigeobjekten geworden, der PC hat sich zu einer kulturellen Selbst-
verständlichkeit gemausert. Für ein Tech- nikstudium braucht
es indes mehr als nur Begeisterung für technische Produkte und ihre
Anwendung: Der schöpferische Zugang zu den Gestaltungspotenzialen
der unbelebten Natur kann nur durch Anleitung und Einübung gewonnen
werden. Für diese "Techniksozialisation" spielt das Elternhaus eine
entscheidende Rolle. Wie aus den Interviews hervorgeht, sind es vor allem
die Väter die ihre Söhne in die Welt der Technik einfahren. Nur
durch solch praktisches Lernen, spieleri-schen Kompetenzgewinn und subjektive
Erfolgserlebnisse kann wirkliche Tech-nikbegeisterung entstehen.
Doch die Zeiten haben sich zum Nachteil einer frühen
Techniksozialisation gewandelt. Zum einen fordert die "vaterlose Gesellschaft"
ihren Tribut: Bundesweit wird mehr als jede dritte Ehe geschieden, in den
Metropolen beinahe jede zweite. Die noch verbleibenden männlichen
Bezugspersonen werden oftmals durch Karriereorientierung und Verdichtung
der Arbeitsanforderungen von den Familien fern gehalten. So wachsen heute
viele junge Menschen ohne Väter auf, die aber, wie das Datenmaterial
zeigt, für die Techniksozialisation eine entscheidende
Rolle spielen. Auch die Technik selbst hat sich stark gewandelt: Die Attraktivität
moderner Geräte beruht weniger auf sinnlich wahrnehmbarer Kühnheit
ihrer Konstruktion, sondern auf Spaß und Nutzen versprechenden Anwendungen.
Ein Paradebeispiel für die Abstraktheit heutiger Technik ist der PC.
Da gibt es nichts mehr zu basteln, zu tunen oder zu löten. Allenfalls
einige vorfabrizierte Module können eingebaut oder ausgetauscht werden.
Die Faszination des Computers geht fast ausschließlich von den Möglichkeiten
aus, welche die Software bietet.
Da braucht es auch nicht zu verwun-dern, dass das rückläufige
Interesse an technischenundingenieurwissenschaftlichen Studiengängen
mit einer schier überbordenden Nachfrage nach Informa tik einhergeht.
An manchen Universitäten wurde deshalb der Numerus clausus für
dieses Fach eingeführt. Wenn nun die IT-Branche über Nachwuchsmangel
klagt, kann dies nicht dem Studienwahlverhalten junger Leute zugerechnet
werden. Hier manifestieren sich vielmehr die Folgen des jahrelangen politischen
Sparkurses im Bildungsbereich und der nicht hinreichende Ausbau eines sowohl
von den Studierenden als auch von der Industrienachgefragten Studienganges.
Die Defizite in der Techniksozialisation setzen sich in der Schule und
der Universität fort. Ist Mathematik bei den Schülern noch umstritten,
so sind Chemie und Physik mit Abstand am unbeliebtesten - sie gelten als
erfahrungsfremd, theoretisch und als besonders schwer. Offensichtlich liegt
hier einiges mit der Didaktik im Argen. Damit das Interesse der Schüler
geweckt wird, müssen sie selbst experimentieren und "spielen" können.
Zur eigenen praktischen Erfahrung im Umgang mit naturwissenschaftlichen
Inhalten gibt es keine Alternative. Auch das Leistungskurssystem, das den
Schülern erlaubt, etwa "schwere" Fächer zu Gunsten von "leichten"
atzuwählen, um so eine bessere Abiturnote zu erzielen, trägt
nicht gerade zu einer Berufsfindung in den Ingenieur- und Naturwissenschaften
bei.
Diejenigen jungen Leute, die sich schließlich doch
zum Studium in einem dieser Fächer entschlossen haben, stellen den
Hochschulen kein besonders gutes Zeugnis aus. Die von uns befragten Studienanfänger
übten unerwartet deutliche Kritik an der Universität im Allgemeinen
und den gewählten Studienfächern im Besonderen: In allen vier
untersuchten Studiengängen wurde die zum Teil schlechte Qualität
von Lehrveranstaltungen, Theorielastigkeit, organisatorisches Chaos und
eine unzureichende Betreuung durch die Dozenten beklagt. Bei den beiden
natur- und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen stand jedoch
die Kritik an überzogenen Leistungsanforderungen und teilweise welt*emden
Inhalten im Vordergrund. Vor allem die Studienanfänger im Fach Chemie
fühlen sich durch die Leistungsanforderungen und Zeit raubenden Praktika
regelrecht "abgeschreckt". So wundert es wenig, wenn 54 Prozent von ihnen
bereits in den ersten beiden Semestern erwägen, das Fach zu wechseln
oder das Studium abzabrechen. Will man mehr erfolgreiche Hochschulabgänger,
dann müssten aus der Kritik der Studierenden wenigstens vier Konsequenzen
gezogen werden:
- Die Lehre (einschließlich der Betreu-ung der Studierenden durch die Dozenten) ist aufzuwerten und zu verbessern;
- die Leistungsanforderungen sind an ein realistisches Maß anzupassen;
- organisatorische Klarheit und Uber-sichtlichkeit sind zu schaffen, und das Informationsangebot für die Studieren-den ist zu verbessern;
- die Studieninhalte sind zu entrüm-peln, der Praxisbezug ist zu verbessern und um fachübergreifende Qualifikatio-nen zu ergänzen.
Im freien Wettbewerb der angebotenen Studienfächer entscheidet die Attraktivität der einzelnen Fächer über Fachwechsel und Abbruchquoten, über den Zu und Abstrom von Studierenden und darüber, wie viele Studierende mit Exa-men in den Arbeitsmarkt entlassen wer-den. Auch hierbei spielt der "Spaßfaktor" eine wichtige Rolle: In Studiengängen, die als überhart oder wenig interessant gelten, ist die Abwanderung der Studierenden eine logische Folge.
Insgesamt wird deutlich, dass die rückläufige
Attraktivität technischer und ingenieurwissenschaftlicher Stu-dienfächer
und Berufsbilder ein facetten-reiches Phänomen ist, für das es
keine einfachen Patentlö sungen geben kann.
Sowohl der abgelaufene Wertewandel als auch der
massive Strukturwandel und die zunehmende Un-gewissheit über die Zukunft
sind unum-kehrbare Entwicklungen, die unsere Ge-sellschaft in den letzten
Jahrzehnten durchlaufen hat. Hinzu kommt, dass die Eigenlogik des Bildungs
und Ausbil-dungssystems und seiner Akteure einer kontinuierlichen "naturwissenschaftlich-technischen"
Sozialisation von Kindern und Jugendlichen eher entgegenwirkt an-statt
sie zu fördern.
Technisches Interesse und Technik-begeisterung jedoch
sind nur zwei Instru-mente im großenKonzert interessanter Phänomene,
Optionen und Genüsse. Werden sie nicht frühzeitig erlernt und
kontinuierlich gepflegt, dann verlieren sie sich allzuleicht und treten
hinter an-dere Interessen und Motive zurück. Es wäre viel gewonnen,
wenn all jene, die sich einen Zuwachs an Technikern und Ingenieuren erhoffen,
begriffen, dass auch dieses Feld mittlerweile über Kon-kurrenzmechanismen
geregelt wird.