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Re: [FYI] Misthaufen & Orale Tradition?



Axel Horns zitiert aus einem Heise-Artikel:

> Nach Ansicht des Informatikers Wolfgang Wahlster wird die moderne
> Sprachtechnologie die Bedeutung der Schriftsprache in den
> nächsten 50 Jahren zurückdrängen. "Das Lesen wird nicht völlig
> überflüssig, aber mit der Vorfilterung durch die
> Sprachtechnologie werden wir weniger Irrelevantes lesen", sagte
> der wissenschaftliche Direktor des Deutschen Forschungszentrums
> für Künstliche Intelligenz (DFKI). Die heute stark am Text
> orientierte Gesellschaft werde in Zukunft wieder mehr Wissen
> mündlich weitergeben und verarbeiten, wie dies vor der Erfindung
> des Buchdrucks vor 500 Jahren der Fall war.

Helmut Springer hört Radio:

> Tja, letztens propagierte im Radio ein mir leider entfallener
> Juenger der neuen Medien© den Trend weg von der viel zu komplexen
> Sprache hin zur Kommunikation ueber viel einfachere Icons.


Vielleicht sollte einmal jemand diese Herren daran erinnern, welch
enorme Furcht einige der totalitären Regime des letzten Jahrhunderts
(man denke an das Rumänien Ceaucescus [sp?]) vor Schreibmaschinen
und Kopierern hatten - zu recht, übrigens.


Wissen ist, wie wir alle wissen, Macht - und Wissensweitergabe ist
die Weitergabe genau dieser Macht.  In konservierter Schriftform
auch über Generationen hinweg.

Wenn eine Gesellschaft leicht zu steuern und zu kontrollieren ist,
dann eine, in der nur wenige wissen, und in der nur wenige in der
Lage sind, Wissen weiterzugeben und zu rezipieren - und zwar ohne
die Vermittlung eines kontrollierend eingreifenden Dritten.


An genau dieser Stelle treffen sich die Kontrollgelüste staatlicher
wie privater Stellen und die Zukunftsträume derart fehlgeleiteter
akademischer und industrieller "Visionäre".  Es wäre doch so
praktisch, wenn wir in einer wissens-, kultur- und erinnerungsfreien
"Informationskonsumgesellschaft" leben könnten, in der zwar
gigabyteweise das Video durch den PC schimmert, die Tastatur aber
längst nicht mehr nötig ist...

Tatsächlich könnte es sein, daß wir auf dem besten Weg hin zu einer
solchen Gesellschaft sind.  Wir beobachten, daß die präzise
Ausdrucksweise, die eine geschriebene Sprache ermöglicht und häufig
überhaupt erst herausbildet, immer weniger verstanden - geschweige
denn genutzt - wird.  Wir beobachten, wie eine Generation
heranwächst, der jedes kulturelle und historische Gedächtnis fehlt -
der damit aber zugleich auch die aus diesem Gedächtnis geborenen
Ausdrucksmöglichkeiten fehlen.  Wer weiß heute noch, was ein Gang
nach Canossa ist, und warum der so heißt?  Wer versteht "bezirzen"?
Wer weiß, was ein "Sirenengesang" ist?  Wer versteht, was es heißt,
wenn jemand seine "Silberlinge" bekommt?  Ich würde diese Fragen
lieber keinem durchschnittlichen Gymnasiasten stellen wollen.

(Was brauchen wir Bibliotheksbrände und Bücherverbrennungen à la
Alexandria, Granada [Spanier vs. Mauren] oder Sarajevo [zerstört
wurden 1992 - 500 Jahre nach Granada - u.a. große Teile der
schriftlichen Überlieferung der nach Bosnien gelangten sephardischen
Juden], wenn wir unser Wissen ausschließlich online aufbewahren?
Aber das nur am Rande.)

Das letzte, was wir da noch brauchen, sind mit Doktor- und
Professorengraden gesegnete Sozioten und sonstige Visionäre (es gibt
Ausnahmen, ich weiß), die Sprache zwar vielleicht zu vergewaltigen
vermögen, aber letztlich nur noch wenig mitzuteilen haben - oder in
all ihrer Hybris von vornherein davon ausgehen, daß die breiten
Massen ohnehin zu blöd sind, um noch etwas zu verstehen.


Wie auch immer - es bringt wohl nichts, wenn ich mich hier aufrege.

Laßt uns also, liebe Freunde, die Dekadenz der - sterbenden? -
europäischen Gesellschaft genießen, soweit das in den Zeiten von
Back Street Boys, Spice Girls und Teletubbies noch möglich ist, und
laßt uns hoffen, daß das Mittelalter sich mit seiner Rückkehr noch
ein paar Jahrzehnte Zeit läßt.

Vermutlich sollte ich einfach meinen Seneca aus dem Regal holen und
das Latein mal wieder auffrischen....

-- 
Thomas Roessler                         <roessler@does-not-exist.org>