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makroökonomische Berechtigung des "radikalen" Technikbegriffs /war: Technikersozialisation



> >Das Patentwesen wird offenbar schon lange von kundigen Leuten
> >auch in traditionellen technischen Bereichen als Geißel der
> >Menschheit empfunden. Möglicherweise werden auch hier die
> >kundigen Leute lediglich durch teils naive teils eigennützige
> >Eigentums-Ideologen übertönt.
> 
> Sehe ich so. Auch in "traditionellen technischen Bereichen"
> lassen sich Mengen an Patenten finden, deren Ideengehalt
> sich letztlich darauf reduzieren läßt, vorhandenes Wissen
> und bekannte Techniken an einer neuen Stelle einzusetzen.
> 
> Ich kenne das z.B. aus dem Bereich der Elektronik. Algorithmen
> lassen sich ja auch immer in Hardware realisieren. Viele Patente
> basieren darauf.
> 
> >Verhalten wir uns vielleicht am Ende unsolidarisch, wenn wir
> >nun eine Trennung in physisches und logisches fordern?
> 
> Man darf nicht zuviel auf einmal wollen, wenn man nicht
> scheitern möchte. ;-)

Deine obige Antwort deutet wiederum darauf hin, dass die Trennung in
physische und logische Innovation genau der richtige Weg ist, um die
Geißel loszuwerden. Denn damit kann man auch die Patente auf
hardware-realisierte Algorithmen beseitigen, belässt aber einen
"Residualbereich" im Patentwesen, wie AHH es in seinem JurPC-Artikel
formuliert:

  Um die Besorgnisse der Kritiker des Patentsystems im Hinblick auf die
  Patentierbarkeit softwarebezogener Erfindungen auf der Ebene der
  materiellen Patentierungsvoraussetzungen auszuräumen, bedürfte es
  nicht nur des Ausschlusses aller jener Anspruchsgegenstände von der
  Patentierbarkeit, die aus sich selbst heraus erkennbar auf eine
  computergestützte Implementation abzielen; jegliche Erfindung im
  Zusammenhang mit elektronischer und im Hinblick auf die Entwicklung
  bislang noch in den Anfängen steckender zukünftiger andersartiger
  Basistechnologien biotechnischer und quantentechnischer
  Signalverarbeitung(54),(55) wäre dann vom Patentschutz auszunehmen. Es
  könnte sich nämlich durchaus ein Eindruck aufdrängen, daß es den
  Kritikern hierbei de facto im Endeffekt nicht mehr nur um eine
  Reparatur des Patentwesens im Hinblick auf besondere Probleme im
  Umfeld der Patentierung softwarebezogener Erfindungen, sondern um eine
  großflächige Aushebelung des Patentwesens als Ganzes geht, denn gerade
  diejenigen Bereiche, die sich derzeit als wirtschaftlich und
  technologiepolitisch besonders vielversprechend darstellen, wären
  sämtlich aus dem Patentwesen herausgenommen. Im Ergebnis käme dies
  einer Wiederaufnahme der Patentdiskussion des XIX.  Jahrhunderts
  gleich, in deren Verlauf die sich um das Jahr 1850 herum in
  Deutschland formierende Antipatentbewegung argumentierte, daß die
  Erfindungspatente dem Gemeinwohl schädlich seien und die
  Gewerbetätigkeit hemmten.(56) Dabei ist die Frage nach dem
  makroökonomischen Nutzen des Patentwesens damals ebenso legitim wie
  heute; es wäre jedoch wünschenswert, wenn die Diskussion offen geführt
  und nicht hinter einer Spezialfrage versteckt würde.

Ich führe diese Diskussion durchaus offen.  
Es gibt im wesentlichen folgende Optionen:

1 grenzenlose Patentierbarkeit
2 grenzenlose Patentierbarkeit mit systematisch nicht verankerten
  Ausnahmen (Disclaimer-Liste 52.2)
3 Patentierbarkeit technischer Erfindungen im klassischen Sinne, d.h.
  Herausfallen von immer mehr "vielversprechenden Feldern" der
  "nicht-ölverschmierten" Entwicklungstätigkeit aus dem Kern-Patentwesen,
  nach Bedarf Adhoc-Rechtsschutz an der Peripherie 
4 Abschaffung des Patentsystems

Ich neige persönlich zu Option 3, die AHH unten auch eine
"Radikaloperation" nennt aber immerhin als rechtliche Möglichkeit im
Rahmen von TRIPS anerkennt:

  Obgleich TRIPS in Art. 71 eine Revisionsklausel enthält, ist derzeit
  politisch kaum mit einer Veränderung des Art. 27 zugunsten von "Freier
  Software" zu rechnen. Wie vorstehend erläutert, ist eine präzise
  Ausgrenzung der Patentierbarkeit softwarebezogener Erfindungen ohnehin
  nicht leistbar; durch Modifikation materieller
  Patentierbarkeitsbestimmungen wären "Softwarepatente" allenfalls dann
  zuverlässig verhinderbar, wenn das Patentwesen auf einen heute
  wirtschaftlich eher uninteressanten Residualbereich von
  "ölverschmierten" Erfindungen fernab jeder Elektronik und
  Nachrichtentechnik zurückgeschnitten werden würde. Es ist derzeit aber
  keinerlei makroökonomischer Aspekt greifbar, der eine derartige
  "Radikaloperation" rechtfertigen könnte.

Wenn es an makroökonomischen Gründen mangeln würde, könnte man immer noch
über den Bereich der Technik hinaus ein paar zusätzliche untechnische
Patente gewähren.  Es spricht nichts dagegen zunächst die Defintion der
"Technik" und der "Erfindung" so zu fassen, dass nur der "residuale"
wirklich mit "ölverschmierter" empirischer Forschung und Entwicklung
zusammenhängende Bereich übrig bleibt.  Alles andere kann je nach
Opportunität aus dem Patentwesen heraus in ein eigenes
Innovations-Schutzrecht gelagert oder auch ad hoc als zusätzlicher
Sonderposten im Patentwesen belassen werden.  Ich persönlich sehe solche
makroökonomische Opportunitäten nicht, aber ich bin nicht besonders
legitimiert, für die Nachrichtentechnik zu sprechen.  Es gibt jedoch
umfangreiche Beweismaterialien dafür, dass nicht-technische Patente auch
in diesen Bereichen "enorm bremsen", wie der Siemens-Manager mir sagte.  
Eine Studie, die dies belegt, ist unter

	http://papers.nber.org/papers/W7062
	Bronwyn H. Hall, Rose Marie Ham -- 
	The Patent Paradox Revisited: 
	Determinants of Patenting in the US Semiconductor Industry, 1980-94

zu finden.  Ebenso die Aussage des Gründers und langjährigen Chefs der
Chip-Großfirma Teradyne unter

	http://petition.eurolinux.org/statements/

Eine makroökonomische Studie des Themas sollte sich dieser Felder mit
annehmen.  

Es ist aber unfair, den Patentkritikern deshalb vorzuwerfen, sie wollten
eine alte Debatte des 19. Jahrhunderts wieder aufnehmen.  Es geht
nicht um die obige Option 4 sondern um die Optionen 2 und 3 in flexibler
Kombination.

Wer anderen geheime Motive vorwirft, verrät meist etwas über seine eigenen
Schwachpunkte.

Bereits 1972 schrieb Prof. Karl Beier in GRUR einen langen Artikel "Die
Zukunft des Patentwesens", indem er forderte, der traditionelle
Technikbegriff müsse überwunden werden, denn es sei abzusehen, dass sonst
außerhalb des Patentwesens große neue Geschäftsfelder entstehen, denen die
Segnungen des Patentwesens nicht zuteil werden.  Mit Zipse und anderen
zusammen klagte er, der BGH und die Softwarepatentgegner seien "im Denken
des 19. Jahrhunderts verhaftet".  Darauf entgegnete Kolle mit den Worten
des BGH, das Patentwesen sei für den Bereich der Technik geschaffen und
dürfe nicht als Auffanbecken für alle geistigen Leistungen fungieren.  
Denn sonst würde es unakzeptable Sperrwirkungen entfalten.

Was Zipse und Beier in den 70er Jahren schrieben, formuliert AHH heute
neu. Es ist aber nur dann ein schlagkräftiges Argument, wenn man
voraussetzt, dass das vom Standpunkt der Leserschaft aus eine unattrakive
Vision ist.  Nun, der Leserschaft einer immaterialgüterrechtlichen
Fachzeitschrift gehen vielleicht tatsächlich viele Milliarden durch die
Lappen, wenn die Vision Wirklichkeit wird. Das macht die Vision aber für
Informatiker und Konstrukteure neuer abstrakt-logischer Systeme noch nicht
unattraktiv.

Jede künftige makroökonomische Studie zu Swpat sollte die
"Radikaloperation" zum Thema haben und über den Tellerrand des Gebiets der
Software hinausschauen.

-phm