[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Re: Experiment zu Machtstrukturen und Zensur im Internet



Hallo Alvar,

nur eine Runde meinerseits noch. Ist alles wieder viel zu lang,
ausser uns interessiert sich vermutlich niemand mehr dafuer.

>> - Sie darf nicht nur, sie muss sich solche Koketterien leisten, weil
>> sich Macht als pure Macht gerade dadurch ausdruecken laesst, auch
>> ohne Ahnung von irgendwas zu haben relevant entscheiden zu koennen.
>> Das ist nicht bloss unbedacht oder naiv, sondern fuer ihre Position
>> sogar noch funktional.
>
>nur läßt sich daraus schnell ersehen, was passiert wenn Leute ohne
>entsprechendes Hintergrundwissen anfangen, selbst Entscheidungen zu
>treffen oder pseudo-populistische Äußerungen von sich geben.
>...

Arbeitsteilung ist unter Komplexitaeetsbedingungen der einzige Modus,
Handlungsfaehigkeit auch zeitnah nicht zu verlieren. Es wird auch
weiterhin ohne hinlaengliches (und wer wollte allein entscheiden, was
das heisst?) Hintergrundwissen politisch entschieden werden MUESSEN.
Deswegen ist, ich schrieb das bereits, Vertrauen genau so wichtig wie
Skepsis. Wer statt hier zwischen beiden zu oszillieren der
Einfachheit halber eine Seite bevorzugt, bekommt Probleme.

>Nur kann ich nicht alles gutheißen, nur weil dies jemand tut um seine
>Macht zu erhalten; gerade dann wenn man sich Gedanken zu einem solchen
>Komplex macht, darf man nicht immer nur davon ausgehen was nun anhand
>der rechtlichen Lage oder dem Wunsch zur Machterhaltung geboten ist,
>sondern es sind Beschreibungen des gesellschaftlichen Wunschzustandes
>gefragt.

Klar, wuensch Dir was, als einer unter (inzwischen vielleicht) 7
Milliarden Menschen und es waere in den Details dann allein Dein
"gesellschaftlicher" Wunschzustand. Oder als einer von sagen wir 100
000 Publizisten, die allein in Deutschland Text fabrizieren. Es ist
im Ergebnis vollkommen belanglos.

>> Fazit: Man sollte Hollywood aus meiner Sicht nicht vorwerfen, dass
>> Unterhaltung unterhaelt und nicht aufklaert. Frau Bullock ist schoen.
>> Und sie hat offenbar Sorgen. Das ist die Message. Ueber ihre
>> Schoenheit und ihre Form des Umgangs mit ihren Sorgen liesse sich
>> streiten. Um mehr nicht. 
>
>Doch! (siehe folgendes)
>
>> Die Materialien, mit denen dafuer hantiert
>> wird, sind belanglos. 
>
>Nein!
>Jeder Künstler, Politiker, Journalist, Medienschaffende ... hat eine
>gewisse Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit. Vereinfachungen, die
>zu einer völlig falschen Darstellung von Tatsachen werden und die
>geeignet sind, beim Zuschauer/Leser/... ein völlig falsches Bild zu
>erzeugen, können sehr gefährlich sein. Der nächste Schritt ist, unter
>dem Deckmantel der Unterhaltung (bewusst oder unbewusst) staatliche oder
>wirtschaftliche Propaganda zu verbreiten.

Unter den derzeitigen Bedingungen, in denen die veröffentliche
Meinung als 4. Macht im Staate fungiert, und auch die
Selbstbeobachtung dieser Medien einen hinreichenden Nachrichtenwert
erzeugt, indem Machenschaften und schlechtes Handwerk bei den anderen
angeprangert werden kann, bin ich in dieser Hinsicht vollkommen
beruhigt.

>> Oder glaubst Du, jemand ging primaer in den
>> Film, um sich ueber E-Mails aufklaeren zu lassen?
>
>natürlich macht das kaum jemand, aber Leute die kein Bild vom Netz
>haben, erhalten durch solche Filme eins.

Unbestritten. Ebenso erhalten sie es durch Sendungen im Fernsehen,
durch Publikumszeitschriften, aber vor allem vermutlich durch
Kollegen und insbesondere durch Freunde, denen man sich vertrauensvoll
zuwendet mit der Bitte, dass einem dieses Internet-Wunderzeugs doch
mal gezeigt werden moege. Solch eine einseitige These wie die obige
halte ich genau fuer undemokratischen Elitismus, anderen hinreichende
Intelligenz und Interesse an den Dingen abzusprechen.

>Im übrigen ist nicht jeder Interessent in der Lage, sich das gewünschte
>Auflösungsniveau selbst herauszusuchen. Diejenigen, die heute neu mit

Jeder sucht sich genau das heraus, was er zu bearbeiten in der Lage
ist. An einem bestimmten Punkt hoert er dann auf, hoeher aufzuloesen.
Und man kann sich immer darueber streiten, unter welchen Bedingungen
dieser Punkt nun angemessen ist oder nicht.

>Computern anfangen, haben oftmals keine andere Möglichkeit als sich der
>Technik zu ergeben; alles andere ist mit sehr sehr sehr viel Arbeit
>verbunden. Und wenn ich hier so herumgucke: kaum einer hat Interesse
>sich damit -- seien es die Hintergründe von Software oder des Netzes --
>genauer auseinanderzusetzen. "Ich will dass es geht" ist das Motto,
>nicht "ich will verstehen". Diese haltung kann ich durchaus
>nachvollziehen, wenn auch nicht befürworten.
>Schau Dir doch mal die Software an, die heutzutage so auf dem Markt ist:
>die Hintergründe werden verschleiert, den Benutzern wird kein
>Verständnis über die ablaufenden Mechanismen gegeben.

Um nicht immer die weitgehend rein konsumtive Haltung gegenueber dem
Auto oder dem Telefon als Analogin zu bemuehen: Ich bin meist
ziemlich genervt davon, wenn mir mein Zahnarzt einen Spiegel in die
Hand drueckt und gut 10 Minuten lang meine eigentlich ziemlich guten
Zaehne im Detail erklaert. Ich sollte meinem Arzt dankbar sein fuer
seine Muehen. Der Ansatz ist Klasse, ein Lob auf den
interaktiv-patientenorientierten Schwenk der neueren
Zahnarztausbildung (dass dadurch eine staerkere Arztbindung und
letztlich ein verlaesslicheres Geschaeft winkt, ist geschenkt). Mich
interessiert nur: Pfropf ohne Diskussion wie frueher das zweifelhafte
Amalgam rein, das natuerlich nach allen Regeln Deiner Kunst, und gut
ist. Welch dumm-konsumtive Haltung.

>Man muss sich sehr sehr stark anstrengen und dafür interessieren, um
>überhaupt mal hinter die Funktionsweisen zu kommen.

So ist es. Es ist ueberall so. Wenn man mit AOL Mails beliebig
verarbeiten und unbeschraenkt das Web nutzen kann, ist AOL aus meiner
Sicht hinreichend tauglich. Wenn dagegen der Editor in der Software
fuer den T-Online-Zugang Texte > 27kB nicht verarbeiten kann, ist das
ein Grund, ganz scharf gegen T-Online vorzugehen (obs immer noch so
ist, weiss ich nicht).

>...
>möglich (extremes Gegenbeispiel: AOL), sie sind High-Level-kompliziert,
>denn einfacher ists faktisch auch nicht. Der Interessent kann eben
>i.d.R. aufgrund von entsprechendem Interface-Design NICHT hinter die
>Kulissen schauen und das Auflösungsvermögen selbst bestimmen ...

Ja, es ist ganz einfach: Wenn das Interface fuer die anvisierte
Kundschaft schlecht ist, ist es schlecht. Und gehoert verbessert. AOL
hat viele Kunden. Das Faktum ist erst einmal Ernst zu nehmen. Jedes
Programm verschleiert die dadrunter liegende Komplexitaet. Irgendwann
laeuft der Prozess dann in die Saettigung, wo eine weitere
Aggregation durch ein weiteres Programm keinen Sinn mehr macht. Unter
Deiner Perspektive liesse sich auch behaupten: Ein Mailprogramm ist
nur eine Verschleierung der ungleich flexibleren Moeglichkeiten, die
ein telnet auf den smtp-Server bietet.

>> Auch diese Mailinglist mutet sich nur in wenigen Dimensionen
>> Anspruchsvolles zu. Scharf gefragt: Wer liest hier bitteschoen
>> soziologisch anspruchsvolle Literatur, die exakte Auskuenfte zum
>> Thema Informationsgesellschaft gaebe, um sich nicht mit ziemlich
>> billigem Kulturpessimismus und antidemokatischem Elitismus in Bezug
>> auf die Entwicklung der "Informationsgesellschaft", wie er in dieser
>> Mailinglist vielfach gepflegt wird, zu begnuegen? 
>
>Hast Du ein paar Literatur-Beispiele parat?

Grundlage: 
Luhmann, Niklas, 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft
1. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Diskussion verschiedener moderner Gesellschaftsbegriffe:
Kneer, Georg/ Nassehi, Armin/ Schroer, Martin (Hrsg.), 1997:
Soziologische Gesellschaftsbegriffe - Konzepte moderner
Zeitdiagnosen, 1. Auflage, München: Fink

Das reichte fuer ungefaehr 2 Jahre Lektuerearbeit.

Als Einstieg fuer einen dunklen Sonntagnachmittag, an dem man mal keinen 
Rechner sehen moechte, empfiehlt sich:
Luhmann, Niklas, 1988b: Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie; in: 
Merkur - Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 42. Jahrgang, Heft 
4, April 1988: 292-300.
(Empfehle ich hier schon zum zweiten Mal. Ich habe nur eine voellig
zerlesene Kopie des Textes. Das Original ist in Kiel nicht mehr
aufzutreiben. Wenn mir jemand eine gut lesbare Kopie zuschickte, waere
ich bereit, das Teil einzuscanen und ins Web zu packen.)

>> Technisches Knowhow
>> befaehigt eben genau nicht auch zu kompetenten Urteilen in anderen
>> Bereichen. 
>
>Das ist richtig!
>Wobei das natürlich auch anders herum zutrifft:
>gesellschaftspolitisches, rechtliches und soziologisches Knowhow
>befähigt nicht automatisch zu kompetentem Urteilen in
>Netzangelegenheiten. Daher ist es IMHO unumgänglich, von jeweils allem
>entsprechendes Wissen zu haben.

Was man meines Erachtens realistisch einfordern kann ist, dass einige
Brueckenmenschen permanent oszillierned einige Uebersetzungsarbeiten
zwischen verschiedenen Bereichen uebernehmen, wissend dass dabei
einiges verloren geht. Genau diese Uebersetzungsarbeit passiert hier
hin und wieder. Hier ist noch immer eine Avantgarde am Werke, die das
von sich weiss und die derzeit auch noch immer einflussreich ist. Der
Einfluss aus kognitivem Vorsprung schwindet allerdings langsam,
analog zum Einbruch des neuen Marktes, dem Erfolg von Linux und dem
allmaehlichen Abwenden der Pioniere von solchen Diskursforen. Deshalb
nimmt hier der weinerliche, kulturpessimistische Ton und die
Ueberhoehung des eigenen Tuns tendentiell zu.

>> Das war eines meiner Kernargumente aus dem Jugendschutzgutachten: Es
>> ist gleichgueltig, ob Filter nun halten, was deren Nutzer sich davon
>> versprechen oder nicht. Der Nachweis der technischen Nichtfunktion
>> fuehrt genau nicht dazu, sie nicht einzusetzen. Sie werden trotzdem
>> eingesetzt, weil technische Funktionalitaet politisch kein allein
>> massgebliches Kriterium ist. Filter werden ueberall dort eingesetzt,
>> wo es um der Demonstration/ den Erhalt/ Ausbau von Macht gehen muss.
>
>nur ist es deswegen gut, sie einzusetzen?
>(Ausgenommen für denjenigen, der seine Macht erhalten möchte.)

Ok, Filter sind schlecht, weil sie bevormunden. Das waers.

Sieh mal, diese Frage, ob etwas gut oder schlecht ist, ist eine
moralische, oder in diesem Falle eher eine politische Frage. Einen
solchen Zugang finde ich langweilig, weil er so wahrscheinlich ist,
denn er liegt innerhalb des Horizonts des gesunden Menschenverstands
(der einem bei wissenschaftlichem Interesse z.B. nichts ueber die
Kugelgestalt der Erde verraet). Ich stelle mir lieber die beiden
unwahrscheinlicheren, wissenschaftlichen Fragen: Was ist der Fall?
Was steckt dahinter?

Natuerlich sind Filter gut. Denn dadurch wird ueber Filter diskutiert
und ob sie tatsaechlich das halten koennen, was sie versprechen. Und
dabei stellt sich gleich die generelle Frage, fuer wie souveraen ein
Staat seine Buerger eigentlich wirklich haelt. Und fuer wie souveraen
Eltern ihre Jugendlichen oder Kinder. Deswegen: Ein Lob auf die
Filter, weil alte Machtstrukturen aufgemischt werden.

>> Eine alluebergreifende
>> Sicht der Dinge ist nicht moeglich, weil sich Gesellschaft von keinem
>> Zentrum aus mehr (logisch bequem) erschliessen laesst. 
>
>aber deswegen muss man doch nicht die Versuche der Machterhaltung
>anderer hinnehmen und sich seiner Freiheitsrechte berauben lassen?

Ja, genau. Wer noch immer meint, zentralistisch verkuenden zu
koennen, bekommt zumindest mittelfristig aufgrund von Fehlanpassungen
Probleme. Das gilt spannenderweise fuer alle sozialen Systeme, fuer
Familien nicht weniger als fuer Organisationen oder Gesellschaft. Ein
typischer Fehler intelligenter Jugendlicher besteht darin, ihre
Loesung von ihren Eltern gleich fuer einen gesellschaftlichen
Aufstand zu halten. Und in den naechsten Jahren werden die
familiaeren Aufstandsmuster dann als Vorlagen auch fuer politisches
Aufbegehren (in Organisationen/ in Gesellschaft) genommen. Das
funktioniert natuerlich nicht. Die Paradoxie des Staates besteht
darin, dass er ueberhaupt erst Freiheitsrechte (z.B. durch das
Gewaltmonopol) konstituiert, in deren Namen dann unter Umstaenden
staatliche Gaengelung angeprangert wird. Fuer eine tatsaechlich
praxismaechtige Politik, die es nicht beim beliebigen
Wuenscheformulieren beliesse, gilt es, ueberhaupt erst einmal solche
Paradoxien wahrzunehmen.

Gruss, Martin
-- 
Martin Rost - http://www.netzservice.de/Home/maro/ - Germany, Kiel