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Re: Industrie vs. Menschen



Moin,

>Da ist aber doch das grundsaetzliche Problem: Wer oder was ist denn 
>eigentlich "der Spezialist"? Jemand von der fachlichen Basis, der jede
>Option irgendeines Cisco-Routers runterbeten kann, oder ein Informatiker,
>der Dir das zugehoerige Petrinetz erklaert, oder wer? Wir sehen doch das

Die Antwort ist bei diesem Beispiel doch ganz einfach: Es kommt auf die 
Fragestellung an.

>Problem schon bei populaeren Fragestellungen wie HIV oder BSE (um mal
>Beispiele ausserhalb der Computerei zu nehmen): man kann fuer jede
>abstruse Theorie einen Spezialisten finden, der sie befuerwortet. Das
>entspricht durchaus dem wissenschaftlichen Pluralismus, der sich dann
>einstellt, wenn eine Fragestellung nicht binaer schwarz/weiss beantwortet
>werden kann (und das ist in den seltensten Faellen der Fall). Man kann

Sehe ich nicht so. Der Wissenschaftscode der Kommunikation, die sich
zur Wissensgenerierung an der Frage-Linie entlang hangelt, die an
einer Seite beim "Was ist der Fall?" und auf der anderen Seite beim
"Was steckt dahinter?" aufgehaengt ist, ist binaer zugespitzt. Die
wissenschaftliche Kommunikationspumpe funktioniert ausschliesslich
ueber die Entscheidung "wahr" oder "falsch". Und nichts anderes. Wenn
andere Codes verwendet werden, und sie werden als wissenschaftlich
permanent falsch ausgeflaggt, dann handelt es sich stattdessen um
politische, oekonomische, religioese oder auch kuenstlerische
Kommunikation. Aber eben nicht: wissenschaftliche. (Dass diese Codes
nicht auseinandergehalten werden liegt daran, dass Organisationen und
deren Mitarbeiter permanent diese verschiedenen Codes ineinander 
uebersetzen muessen.)

>den Politberatern schlimmstenfalls noch Politgemauschel unterstellen,
>welches ein systemimmanentes Selektionskriterium fuer Leute in solchen
>Positionen ist; gerade deshalb findet man dort gerade nicht die Techniker,
>die "eigentlich doch den Ueberblick haben", sondern eben nur "irgendwelche
>vermeintliche Spezialisten". Das Problem ist: sie "sind" Spezialisten,
>leider nicht solche, die "wir Spezialisten" als solche bezeichnen wuerden.

Selbstverstaendlich handelt es sich um Spezialisten. Um
Politik-Spezialisten. Man tut gut daran, sie auch als solche zu
begreifen, wenn man tatsaechlich politisch zu handeln beabsichtigt
(und nicht wie hier nur gehobenes Stammtischpalavern veranstaltet).
Wir entscheiden hier nichts. Unsere besserwisserischen Zurufe hier 
sind nicht einmal Politik.

>Und nun haben wir das Aergernis, dass diese eben eine Wahrheit propagieren,
>nur leider nicht "unsere Wahrheit". Der Konflikt ist unafloesbar.

Er ist dadurch loesbar, indem technische Figuren und Einsichten in die
politische Sprache uebersetzt werden. Sensible Uebersetzer sind rar.
Statt sich ironisch zu ueberheben, muss er beide Seiten tatsaechlich
verstehen.

>> Ich glaube zwar, dass auch ein Kanzler inzwischen mal im Web gesurft 
>> ist und leidlich mit seinem Webbrowser klar kommt. Aber zu den 
>> Strukturen dainter ist er sicher noch nicht durchgedrungen. 
>
>Ist auch nicht sein Job. Frage ist freilich: was ist denn dann sein Job?

Sein Job ist: Die Leitlinien der Politik vorzugeben (Art 65 GG).

>> Und dann wollen alle moeglichen Leute eine Aussage von
>> ihm dazu und schlagen auf ihn ein, wenn die Antwort nicht gefaellt - der
>> Mann *kann* gar keine eigene kompetente Antwort liefern, der merkt nicht
>> mal, wenn seine Berater Kaese erzaehlen :-( (Das gilt uebrigens fuer
>> alle Politiker - meine Meinung) 
>
>Du wuerdest als beratende Spezialistin ebenso Kaese erzaehlen - in den
>Augen von irgendjemand anderem. Zu denken, dass dies nicht so waere, hiesse,
>dass Du die Wahrheit gepachtet haettest. Jedes Ding hat zwei Seiten -
>gilt leider nur fuer Muenzen und Medaillen - real gibt es beliebig viele
>Aspekte.

In einer kommunikativ erfahrenen Umgebung wuerde eine
Technikspezialistin nicht als jemand eingestuft werden, der Kaese
erzaehlt. Ganz im Gegenteil: Man tut in arbeitsteiligen Umgebungen
gut daran, genau die spezifische Intelligenz der Anderen zu
schaetzen. Tatsaechlich gibt es dazu auch keine Alternative. Den Rest
der Welt fuer Idioten zu halten, ist typisch fuer die jeweils
vorherrschende kulturelle Avantgarde. Seit einigen Jahren sind die
Techniker am Druecker. Der Erfolg verfuehrt zu Erwartung, dass die
Welt sie verstehen muss - nicht umgekehrt.

>> Ich kann ihm nicht mal einen Vorwurf dazu machen, weil wenn er sagt: 
>> Sorry, dazu kann ich nichts sagen, schreien auf einmal die 70% Buerger 
>> auf, die mit Internet nichts zu tun haben (wollen) aber irgendwo 
>> glauben, alles, was mal studiert hat ist allmaechtig und weiss alles.
>
>Genau da muss die Ausbildung der Bevoelkerung beginnen - nicht jeden
>Scheiss zu glauben, den irgendein Spezialist erzaehlt, sondern sich
>selbst ein Bild zu machen. Die Tuecke daran ist (vom Zeitaufwand dafuer
>abgesehen), dass eine Gesellschaft dann den Bach runtergeht - sie blockiert
>sich selbst in unloesbaren Entscheidungskonflikten.

Es geht hier nicht um die Konflikt-Bewaeltigung des taeglichen
Einkaufs, sondern um gesellschaftlich relevante Entscheidungen, die
in Organisationen hergestellt werden, mit Funktionstraegern (vulgo in
diesem Zusammenhang: Politikern) als deren personalisierten
Stellvertretern (es sind die Organisationen, die ihre
Funktionstraeger ausmendeln). Eine kluge Bevoelkerung bietet sicher
eine gute Umgebung, wenn gesellschaftlich funktionierende
Entscheidungen zustandekommen sollen. Entscheidend ist aber, wie
Organisationen ihre Entscheidungsstrukturen ausbilden, so dass es
_dort_ nicht zu Blockaden, aber auch nicht zu Kurzschluessen, kommt.

Gruss, Martin
-- 
Martin Rost - http://www.netzservice.de/Home/maro/ - Germany, Kiel