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Genua



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text 1:

Am Samstag, den 21.7.2001 um 23.56 Uhr haben Sondereinheiten der
Carabinieri und der italienischen Polizei (ca. 200 Beamte) die
Schule Diaz, in der GegnerInnen des G8-Gipfels uebernachteten,
gestuermt. Die Polizeibeamten haben eine Seitentuer eingeschlagen und
sind mit lautem Gebruell in das Gebaude gestuermt. Sekunden spaeter
konnten Leute vom gegenueberliegenden Independent Media
Center lautes Geschrei vernehmen. Die in der Schule Anwesenden wurden
brutal zusammengeschlagen und schliesslich alle verhaftet.
Ein Grossteil der Leute in der Schule wurde von SanitaeterInnen auf
Bahren hinausgetragen. Sie waren schwer verletzt und blutbeschmiert,
viele hatten Kopfverletzungen. Einige waren bewusstlos. Die
allerwenigsten waren noch in der Lage zu laufen. Im Gebaude selbst
wurde
alles verwuestet, die 5 Computer kaputtgeschlagen, saemtliches Gepaeck
ausgeschuettet, Geld und Reiseausweise sowie Kameras etc.
geklaut.

Nachdem alle in Krankenhaeuser und Knaeste abtransportiert worden
waren, wurde bei der Besichtigung des Gebaudes ueberall Blut
gefunden. Blut zwischen den Schlafsaecken, Blut auf den Klos, Blut im
Treppenhaus. Ueberall, wo die Polizei Leute erwischt hat, die noch
zu fliehen versucht haben, wurden sie auf der Stelle
zusammmengeschlagen und misshandelt. Mehrere Personen wurden
lebensgefaehrlich verletzt.

Nach Presseangaben vom Sonntag wurden in der Schule 66 Personen
festgenommen, 50 davon verletzt. Heute wird berichtet, dass bei der
gesamten Operation 93 Personen festgenommen wurden, das schliesst auch
die Leute ein, die sich in den umliegenden Strassen oder
vor der Schule aufhielten. 15 ItalierInnen wurden freigelassen. Die
verbleibenden 78 Personen aus unterschiedlichen Laendern sind noch
in Haft.

Nach Angaben einer Krankenhausangestellten aus dem San Martino
Krankenhaus in Genua waren die Verletzten in einem
unvorstellbarem, furchtbarem Zustand. Sie berichtete von multiplen und
komplizierten Frakturen, eingeschlagenen Schaedeln und
ausgeschlagenen Zaehnen. Viele befanden sich in einem Schockzustand,
waren kreidebleich, kaum ansprechbar und hatten Angst,
ueberhaupt beruehrt zu werden. Nach ihren eigenen Angaben hatte sie so
etwas noch nie erlebt oder gesehen.

Wir wissen sicher von Eltern, die vom Auswaertigen Amt informiert
wurden, dass in einem Fall ein Mann an der Schaedeldecke operiert
werden musste. Inzwischen muss er nicht mehr kuenstlich beatmet
werden. In einem anderen Fall wurden die Eltern informiert, dass sich
ihr Sohn nicht mehr in Lebensgefahr befindet. Mehr Informationen
wurden den Eltern nicht gegeben. Einer anderen Person, einem Briten,
wurden die Rippen gebrochen, was zu schweren Lungenverletztungen
fuehrte.

Es gibt bisher keine gesicherten Informationen ueber den Verbleib
aller in der Schule Verhafteten. Bei vielen Leuten ist immer noch
nicht
klar, wo sie sich befinden, im Krankenhaus oder im Gefaengnis. Viele
wurden auch zuerst ins Krankenhaus und danach ins Gefaegnis
gebracht. AnwaeltInnen durften bisher niemand sehen, die Krankenhauser
gleichen Polizeifestungen, niemand durfte rein. Der Schwester
eines Schwerverletzten wurde gestern (23.7.) abend der Krankenbesuch
verweigert.

Am 23.7. besuchte eine Delegation, bestehend aus dem
Europaabgeordneten Luigi Vinci von der Partei Rifondazione Comunisti,
einem
Mitglied eines Sozialen Zentrums aus Mailand sowie einer Dolmetscherin
aus Deutschland, den Frauenknast in Vercelli. Wir geben hier
einen Bericht der Dolmetscherin wieder:

"Von den verhafteten Frauen aus der Schule befinden sich 6 im
Gefaengnis von Vercelli, mit 4 von ihnen wurde gesprochen: Nach einem
5-minuetigen Gespraech mit ihnen gibt es folgende Kurzeinschaetzung:

Alle Frauen gaben an, in der Schule geschlagen worden zu sein.
Weiterhin erzaehlten alle Frauen, dass der Zustand der Maenner aus der

Schule Diaz in jedem Fall schlimmer sei. Sie geben an, dass die
Maenner die ganze Nacht auf dem Polizeirevier weiter gefoltert worden
sind, da sie die ganze Nacht von Ihnen Schreie gehoert haben. Sie
selber sind auf dem Polizeirevier weiter schikaniert worden:
Beschimpfungen, Schlaege und Tritte beim aufs Klo gehen. Sie sagen
alle aus, dass sie relativ gut bei weggekommen sind. Im
Gefaengnis ist die Behandlung besser als bei den Bullen. Ihnen wurde
teilweise erlaubt, Anrufe zu machen. Sie sind in 2-3 Zellen
weitgehend (ausser 1 Person) nach Staatsangehoerigkeit geordnet.

Fast allen Frauen wird oeffentlicher Widerstand vorgeworfen.
Mindestens ein Mann, der der Polizei nicht mehr bekannt ist, soll eine

Angklage wegen versuchten Mord (Homicide) bekommen.

Eventuell wurden Roentgenaufnahmen aus dem Krankenhaus konsfiziert."

Weiterhin traf die Dolmetscherin Italienerinnen, die bereits
Samstagnachmittag verhaftet worden waren. Sie wurden gestern aus
Vercelli
entlassen. Sie berichten folgendes:

Sie selbst wurden auf dem Bullenrevier in Genua nicht geschlagen. Sie
mussten sich jedoch 19 h mit den Haenden erhoben ohne Essen
und Trinken an eine Wand stellen. Sie gaben an, dass die Bullen offen
organisierte Faschisten waren. Es gab permanente
Beschimpfungen wie " scheissjuedische Zigeunerin ", " Hasta la
victoria sempre" mit gleichzeitigem Hitlergruss, weiterhin wurden
Mussolinibilder an den Waenden gesehen.

Einer Person, der vorher die Beine gebrochen worden, konnte nicht an
der Wand stehen, wurde weiter geschlagen bis sie sich irgendwie
hingestellt hat. Die Bullenfrauen waren teilweise schlimmer als die
Maenner. Haben die Frauen an den Haaren gezogen und gerissen. Sie
wurden von den Festgenommenen Als "totale Psychopatinnen" bezeichnet.
Weiterhin berichteten sie, dass Traenengas in die Zellen
geworfen worden ist. Eine Person hat daraufhin Blut erbrochen.

Alle Inhaftierten bitten darum irgendwie Druck auszuueben und zu
helfen !!!!

Hier endet der Bericht der Dolmetscherin. Die Gefangenen sitzen seit
60 Stunden im Knast (Stand Dienstag, 24.7., 12.00 Uhr)


text 2:

Ich bin der Vater von Katharina Zeuner, die am Morgen des 22. Juli 01
in der Schule Armando Diaz Opfer eines geplanten
und brutalen Polizeiüberfalls auf friedliche und schlafende
ProtestiererInnen gegen den Genueser Weltwirtschaftsgipfel
wurde. Ich habe bis heute, Mittwoch, keinen Kontakt zu ihr bekommen,
und ich hoffe, dass sie - entsprechend den
Prognosen des Mailänder Konsulats der BRD - bald freigelassen wird.
Zugleich bin ich Professor für Politikwissenschaft und ein politisch
engagierter Mensch.
Ich habe gestern bei der Pressekonferenz des Berliner
Ermittlungsausschusses in beiden Rollen Stellung genommen,
und bin gebeten worden, meine mündliche und spontane politische
Stellungnahme nachträglich aufzuzeichnen. Das tue
ich gerne:

Ich lese - zufällig - in diesen Tagen Sebastian Haffners Frühwerk
„Geschichte eines Deutschen“. Darin wird
besonders eindringlich beschrieben, wie sich im März 1933 bei fast
unverändertem Alltag die Koordinaten des
Privatlebens durch die Umwandlung des preußisch-deutschen Staats in
eine antihumane Terrororganisation verändert
haben. Es wird auch der mangelnde Widerstand der deutschen
Bevölkerungsmehrheit und ihrer Führungsgruppen aus
Parteien und Gewerkschaften gegen diese Umwandlung beschrieben.
Ohne die gegenwärtige Situation mit 1933 gleichsetzen zu wollen, was
selbstverständlich unhistorischer Unfug wäre,
scheint mir eine Gemeinsamkeit festhaltenswert: Es kommt darauf an,
der Umwandlung des dem Recht und der
Demokratie verpflichteten Staatsapparats in einen Terrorapparat der
Herrschenden entgegenzutreten.
Wenn Polizisten, wenn Spezialeinheiten der Polizei es sich
herausnehmen, politisch unliebsame Personen, wie in Genua
geschehen, mitten in der Nacht zu überfallen und brutal, ja
lebensgefährlich zu verprügeln, dann ist es zu Folterkellern
wie denen der SA im Deutschland von 1933 nur noch ein Schritt. Wer den
Überfall auf die Diaz-Schule in Genua als
irgendwie entschuldbar durchgehen lässt, leistet Beihilfe zu einer
schleichenden Faschisierung der Gesellschaft. Der
italienische Innenminister Scajola hat erklärt: „Die
Sicherheitskräfte verhielten sich mit beispielhafter Würde und
können nicht dem Spott preisgegeben werden.“ Dies ist exakt die
Sprache von Hitler und Göring aus dem Jahr
1933. Wenn Herr Scajola nicht abgelöst wird, wenn diese Denkweise sich
durchsetzt, sind wir - in Italien und in Europa
insgesamt - auf dem Weg in eine andere Republik.

Neben der Parallele zu 1933 sehe ich eine andere, im Ergebnis
tröstlichere, die zum Sommer 1967 in Deutschland u d
insbesondere in West-Berlin. Ein wildgewordener Polizist namens Kurras
erschoss am 2. Juni 1967 beim von
Demonstrationen begleiteten Schah-Staatsbesuch den friedlichen
Demonstranten Benno Ohnesorg. Der West-Berliner
Staatsapparat unter dem Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz
stellte sich damals sofort und reflexartig voll hinter
die Polizei einschließlich des tötenden Polizisten Kurras, Herr
Albertz rief die Berliner auf, sich gegen den
„Terror“ der demonstrierenden Studenten zu wehren. Der
Polizeipräsident Dünsing rechtfertigte seinen
brutalen, Hunderte von Verletzten produzierenden Knüppeleinsatz gegen
Anti-Schah-Demonstranten vor der Deutschen
Oper Berlin mit dem „Leberwurst-Prinzip“: Man müsse in die
Mitte hineinstechen, damit es am Ende
herausquillt. - Ein paar Wochen später waren Dünsing und Albertz nicht
mehr im Amt, und Albertz sagte noch Etwas
später, er sei nie so schwach gewesen wie an dem Tag, an dem er sich
hinter seine Prügelpolizei gestellt habe.
Wie kam dieser Wandel? Durch beharrliche Demonstration gegen
Staatsterror, durch mutiges Eintreten ganz vieler
Menschen, vor allem StudentInnen, auf der Straße und in den Medien für
Menschenrechte, durch beharrliche
Untersuchungen eines - schon damals bestehenden! -
Ermittlungsausschusses gegen Übergriffe der Polizei, durch
massenhafte Aufklärung gegen die damals herrschende Mediengewalt (vor
allem "Springer-Presse").

Auch wenn wir wissen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt,
können wir aus ihr lernen. Es gibt Dinge, die gleich
bleiben und es gibt Neues. Gleich geblieben ist die Unmenschlichkeit
von absoluter Herrschaft und eines entfesselten
Kapitalismus. Gleich geblieben ist zum Glück auch die Fähigkeit der
Menschen auf der ganzen Welt, sich gegen diese
Unmenschlichkeit zu wehren. Neu ist unsere Chance, uns über internet
zuzammenzutun. Neu ist, dass wir es nicht mehr
mit einem deutschen, sondern mit einem italienischen, ja einem
europäischen und tendenziell weltweiten Problem einer
wild gewordenen Staatsgewalt zu tun haben. Neu und ermutigend ist,
dass der Widerstand gegen globalisierte
Ungleichheit und Ungerechtigkeit selber international geworden ist.

Der antidemokratische und bürgerfeindliche Staatsapparat des
Berlusconi (und seiner Brüder im Geiste wie Schröder,
Schily, Bush, Blair u.a.) ist nicht so leicht zu konterkarieren und zu
deligitimieren wie der des Heinrich Albertz in
West-Berlin 1967/68 (obwohl auch das uns damals viel Mühe kostete).
Aber es lohnt sich, und es ist nicht chancenlos:
Italien muss wieder ein Rechtsstaat werden. Und: Weder in Italien noch
anderswo darf der Staatsapparat einfach so
machen, was die gerade Herrschenden wollen. Und: Ohne eine
demokratisch-rechtsstaatliche Regulierung des
weltweiten Kapitalismus geht die Menschheit zu Grunde. Wir brauchen
nicht weniger, sondern mehr Treffen von
Politikern. Aber diese Politiker müssen demokratische Politik machen
und sich gegenüber dem wildgewordenen Kapital
durchzusetzen versuchen.

P.S. Ich finde, dass seitens der in Genua angetretenen Gegner dieses
Weltwirtschaftsgipfels zu wenig Kritik an dem
ihnen aufgedrückten Etikett „Globalisierungsgegner“ geübt
worden ist. Meine Tochter z.B. hat im letzten
Jahr viel Zeit in Mexiko, Kuba und USA verbracht; für September hat
sie ein Austauschprogramm mit Studentinnen aus
Sibirien mit organisiert. Globaler geht’s doch kaum. Wogegen sie
eintritt - und ich auch eintrete - , ist die
spezifische, kapitalistische, die Konkurrenz intensivierende, die
Verelendung der Verlierergruppen und die Spaltung von
Gesellschaften verschärfende Form der „Globalisierung“.
Wie wäre es also, wenn die Presse statt von
„Globalisierungsgegnern“ einfach von
„Internationalisten“ sprechen würde?