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Grober Konsens



Um mal Recktenwald-mäßig ein Gedankenbröckchen in die Runde
zu werfen:

Jede Rechtsordnung beruht letztlich auf einem »groben Konsens«
über ihre Gültigkeit.


Der Gedanke ist nicht neu, aber die Rechtspositivisten hatten keinen
Begriff dafür, der so treffend war. Nicht nur ungenau, sondern
unzutreffend ist die Vorstellung vom »Gesellschaftsvertrag«, der in
verschiedenen Varianten in der Rechtsphilosophie als Geltungsgrund
allen Rechts verbreitet ist. Ich breite den Gedanken mal ein bißchen
weiter aus.

Die Hauptprobleme des Gesellschaftsvertrags:

- Ein solcher Vertrag existiert allenfalls als Fiktion und wurde
  niemals tatsächlich abgeschlossen. Wie soll sich dann "reales" Recht
  von ihm ableiten lassen?

- Davon abgesehen: Es gibt Individuen, die die Rechtsordnung nicht
  akzeptieren. Man kann unterstellen, daß sie auch den fiktiven
  Gesellschaftsvertrag nicht mit abgeschlossen hätten. Wie
  rechtfertigt sich der Anspruch, daß auch diese sich an das Recht
  halten?

- Schließlich: Ein Vertrag ist eine verbindliche
  Vereinbarung. Verbindlich sind Verträge, wenn eine Rechtsordnung
  ihre Verbindlichkeit vorschreibt. Woher kommt die Verbindlichkeit
  des ersten Vertrages?

Eine Rechtsordnung wird auch nicht dadurch zu einer solchen, daß sie
durch Zwang durchgesetzt wird und man bei ihrer Verletzung klagen
kann. Sie funktioniert nur, wenn sie von zumindest einigen
Gesellschaftsmitgliedern unabhängig von äußerem Zwang als verbindlich
akzeptiert wird. Zum Beispiel sehen heutige Rechtsordnungen eine höchste
Gerichtsinstanz vor, die keiner weiteren Rechtsaufsicht
unterliegt. Das funktioniert nur, wenn das höchste Gericht das Recht
als gültig ansieht (oder wenigstens nicht allzu offen mißachtet).


Das ist alles nichts neues. Schon Georg Jellinek hat geschrieben
(Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage 1914 [4. Nachdruck 1922],
S. 333 f.):

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»Eine Norm gilt dann, wenn sie die Fähigkeit hat, motivierend zu
wirken, den Willen zu bestimmen. Diese Fähigkeit entspringt aber aus
der nicht weiter ableitbaren Überzeugung, daß wir verpflichtet sind,
sie zu befolgen¹).

  ¹) Selbstverständlich ist die Gültigkeit des einzelnen Rechtssatzes
  damit keinesfalls subjektiver Willkür anheimgegeben. Denn die
  psychologische Grundtatsache des sich Verpflichtetwissens durch eine
  Norm ist in keiner Weise individuellem Belieben überlassen, vielmehr
  tritt die Norm auch dem ihr Widerstrebenden mit dem nicht zu bannenden
  Anspruch auf Gültigkeit entgegen. Es ist ja oft hervorgehoben worden,
  daß der Mörder oder Dieb durchaus nicht die Gültigkeit der von ihnen
  übertretenen Normen bestreiten, daher ihnen die Strafe wohl höchst
  unerwünscht, aber nicht als Unrecht erscheint. [...]

Die Positivität des Rechts ruht daher in letzter Linie immer aus der
Ü b e r z e u g u n g von seiner Gültigkeit. Auf dieses rein
subjektive Element baut sich die ganze Rechtsordnung auf. Das ergibt
sich als notwendige Folge der Erkenntnis, daß das Recht in uns steckt,
eine Funktion der menschlichen Gemeinschaft ist und daher auf rein
psychologischen Elementen ruhen muß¹)

  ¹) Diese Überzeugung ist die des Durchschnittes eines Volkes. Bei
  allen massenpsychologischen Feststellungen werden notwendig die
  entgegenwirkenden Akte einer Minderzahl vernachlässigt. [...] Die
  Opfer der spanischen Inquisition haben die Normen, auf deren Grund sie
  verurteilt wurden, schwerlich als Recht empfunden. [...] Der Jurist
  allerdings kann mit diesem Widerstreit nicht rechnen, solange er sich
  auf einen geringen Kreis von Personen und vereinzelte Fälle
  beschränkt. [...]«
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Jellinek arbeitet also (in der berühmten »Inquisitions-Fußnote«) mit
der Formulierung von der Ȇberzeugung des Durchschnittes eines
Volkes«. M.E. trifft »grober Konsens« deutlich besser, worauf es
ankommt. Wer hat diesen Begriff eigentlich aufgebracht? Ist er im Netz
entstanden, oder ist er dort nur »zu Blüte gebracht« worden? Gibt es
brauchbare soziologische Abhandlungen über das Phänomen?

Hauke