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Re: Kontrollverlust



Patrick Goltzsch meinte am 19.11.01 im Brett /ML/FITUG
zum Thema "Re: Kontrollverlust":

> Vor einigen Jahren habe ich das für's Usenet versucht
> (http://www.minerva.hanse.de/use/225.html).

Da steht vieles Interessantes, aber wenig bis nichts von der   
Unterscheidung von privat und öffentlich. Insbesondere die dort am Schluß  
aufgestellte Hypothese vom "Schwinden der Grenzen zwischen interpersonaler  
Kommunikation und Massenkommunikation" bleibt leider unreflektiert.

> Vor längerer Zeit hat Kristian das mal sehr anschaulich
> zerlegt. In Abhängigkeit von Software, Einstellungen,
> Cookies usw. kann eine Webseite sehr unterschiedliche
> Inhalte vermitteln.

Mir geht es nicht darum, was eine Webseite theoretisch kann, sondern um  
eine Analyse tatsächlicher Nutzungen, eben um soziale Praxen, die sich im  
Gebrauch der Technologie bilden. Interessant finde ich dabei nicht so sehr  
die exotischen Varianten (HTTP-over-News-over-UUCP-over-TCP/IP-mit-PGP- 
und-SSH-over-etc.), sondern solche, die von allgemeiner Bedeutung sind,  
weil sie massenhaft auftreten - etwa einfache Webseiten.

Meiner Wahrnehmung nach ist die überwiegende Zahl von Webseiten auf  
Öffentlichkeit hin konzipiert, in dem Sinne das mehrere - möglichst viele   
Leute die selbe Seite, bzw. die selben Inhalte abrufen. Das macht  
insbesondere ökonomischen Sinn, denn die Individualisierung von Inhalten  
ist - mit zunehmender Perfektion - nämlich ein aufwändiges Geschäft, was  
jeder weiß, der schon mal Serienbriefe erstellt hat, die über eine  
Individualisierung von Adresse und Anrede hinausgehen. Es ist im  
allgemeinen weniger aufwändig - und rechnet sich damit eher - vielen  
Leuten gleiche Inhalte vorzusetzen. Ein wenig cookie-induzierter  
Individualisierungsklimbim am Rande (Werbekram, persönliche Anrede) sollte  
dabei nicht vom im wesentlichen gleichbleibenden Inhalt ablenken.

Um das mit der Individualisierung mal auf die Spitze zu treiben: Es wäre  
doch theoretisch durchaus denkbar, dass uns etwa Herr Wickert abends  
persönlich zu den Tagesthemen begrüßt - "Guten Abend Herr Goltzsch, hier  
ihr persönlicher Nachrichtenüberblick." Womöglich wäre er aber auch schon  
ein alter Mann, bis er all die individualisierten Anreden in die Kamera  
gesprochen hat. Und zudem wäre es langweilig, wenn wir jeden Abend die  
selbe aufgezeichnete Anrede über uns ergehen lassen müßten. Wenn schon,  
dann möchte man das jeden Abend leicht variiert: "Hallo Herr Goltzsch, na,  
wie geht's Ihnen? Sie sehen aber heut' aber etwas blass um die Nase aus.  
Vielleicht muntern sie die Nachrichten ja etwas auf. - Afghanistan ..."
Also: Zuviel Individualisierung das hätte eindeutig den Nachteil, dass man  
sich jeden Abend für Herrn Wickert schick machen, die Füße vom Tisch und  
den Finger aus der Nase nehmen muss, wenn er mit dem Televisor  
hereinschaut.

Kurzum: die Individualisierung ist aufwändig - und genaugenommen wollen  
die Rezipienten sie auch nicht immer, denn sie hat nämlich auch Nachteile.  
Dabei kann eine Analyse des Neuen an den neuen Medien uns auf Dinge  
hinweisen, die wir an den alten Medien eigentlich ganz praktisch finden.

> Als die australische Regierung ihre
> Maßnahmen zur Zensur einführte, kursierte die Aufforderung,
> Adressen die zu gov.au (o.ä.) gehören, mit einer
> Standardseite ("Nicht für Zensoren") zu bedienen.

Lustig das. Und was hat das geholfen? Sind Gesetze zurückgenommen bzw. die  
Maßnahmen eingestellt worden?

>> Da wird es nun interessant: getauscht wird offenbar
>> Musik, und zwar "alte", bereits veröffentlichte Musik,
>> nicht etwa Neues, Selbstkomponiertes,
>> Gesampeltes. Kann dieses System überhaupt beim Tausch
>> von neuer, d.h. gerade solcher Musik, die bisher nicht
>> veröffentlicht war, funktionieren?

> Was hat das mit dem Thema privat vs öffentlich und der
> Kontrolle zu tun?

Mir ging es allgemein um eine Bewertung dessen, wozu die Technologie  
eingesetzt wird. Mit dieser weitergehenden Überlegung ging es mir darum,  
ob die Systeme möglicherweise sinnvoll eingesetzt werden könnten, etwa um  
für Musiker die von ihnen benötigte Öffentlichkeit herzustellen durch  
Bündelung von Aufmerksamkeit. Das scheint mir aber nicht der Fall zu sein.

> Du hältst Dich außerdem an einem
> willkürlich herausgegriffenen Beispiel auf.

Beispiele haben es meistens so an sich, dass sie willkürlich  
herausgegriffen sind. Ich hatte es dankbar als solches genommen, weil ich  
mich - wie gesagt - länger nicht mit der tatsächlichen Nutzung solcher  
Systeme beschäftigt habe. Es scheint sich aber nicht viel verändert zu  
haben, oder? Braucht das immer noch so viel Bandbreite?

> P2P dient mir
> z.B. auch dazu, aktuelle Empfehlungen zu überprüfen. (Die
> Senderlandschaft von Rundfunk & Fernsehen erhebt das zur
> puren Notwendigkeit.)

Wenn es wirklich nur darum ginge, den Konsumenten etwas mehr  
Bequemlichkeit zu verschaffen - dadurch, dass diese die Musik schon mal  
anhören können, wozu sie bisher in den Laden rennen mussten, um sie dann  
bei Gefallen später zu kaufen - wieso sollte sich die Musikindustrie dem  
verweigern? Ich glaube aber, dass die Musiktauschbörsen in dem was sie  
bewirken, deutlich darüber hinausgehen, bzw. die Leute ganz schön lange  
brauchen, "aktuelle Empfehlungen zu prüfen" und darüber das Zahlen ganz  
vergessen; es gibt da offenbar reale Umsatzeinbrüche. - Sonst würde die  
Musikindustrie nicht so schreien. Legitime Interessen?

> Du kannst diesen Standpunkt ja gerne vertreten. Du solltest
> dann aber auch einen gangbaren Weg weisen. Wenn Du der
> Meinung bist, dass P2P-Dienste Öffentlichkeit herstellen und
> Urheberrechte verletzen, musst Du eine Handhabe vorweisen,
> dem Gesetz Geltung zu verschaffen.

Wie die genaue Rechtslage aussieht weiß ich nicht. Ich nehme nur den  
Aufschrei von Seiten der Verwerter/Urheber wahr und versuche die  
Legitimität der entgegenstehenden Interessen abzuschätzen. Die Diskussion  
sollte dabei meines Erachtens auf der Ebene von Rechten der Beteiligten  
geführt werden, nicht auf der Ebene von technischen Sachzwängen, die den  
Charakter von Totmannschaltungen haben: "Ätschibätsch - keiner mehr  
verantwortlich". Das führt über kurz oder lang zu einem kybernetischen  
Wettrüsten und auch zu Überreaktionen (vgl. PGP-Verbot bzw.  
Entschlüsselungszwang in Frankreich).

Handhabe? Elektronischer Verwaltungsakt, vollautomatisiert :-)
Wenn es nichts Spezialgesetzliches gibt: irgendwie in die Richtung  
effektive Gefahrenabwehr nach Polizeirecht durch Inanspruchnahme von  
Zustandsstörern (Client-Betreiber und/oder Accessprovider) aufgrund von  
Störung der öffentlichen Sicherheit durch Standardmaßnahme  
Identitätsfeststellung, Anhörung, desweiteren Sperrungsverfügung "binnen  
Tagesfrist", Androhung der Beschlagnahme, elektronische Zurückweisung des  
Widerspruchs, Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, grünes Taxi, freundliche  
Befragung wegen Passwort, Androhung von Fernsehverbot, Lügendetektor,  
Daumenschrauben, Androhung von Internetverbot .....


Gruß,
Mario
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