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Re: [FYI] Es wird Ernst mit den Jugendschutzbestimmungen im Internet, ICRA als Pilotprojekt fuer "Filtering" nach dem JMStV?



Hallo Liste,

Saturday, October 25, 2003, 3:28:15 PM, Kristian Köhntopp wrote:

> On Friday 24 October 2003 14:35, Alvar Freude wrote:
>> - ICRA verabschiedet sich eindeutig von Selbstregulierung und Co,
>> sprich: am Anfang wurde vehemennt abgelehnt, dass eine staatliche
>> Instanz da Auflagen macht und mitbestimmt, nun wird das akzeptiert
>> Inkl. Rating-Pflicht etc.

Dieses euphemistisch "Ko-Regulierung" (also gut gemeinte Filterung
wegen gesellschaftlicher Verantwortung durch Provider & Anbieter +
staatlicher Eingriff, wenn diese nicht ausreichend ist) genannte
Prinzip wird eigentlich seit Jahren von Bertelsmann propagiert
(Schrieb ich hier schon oefter, oder?).

Ok, ICRA ist ja bekanntlich "eigenstaendig", wirklich ueberraschend
ist der Schritt aber nun wirklich nicht. Und mit Verlaub, wer ernst-
haft geglaubt hat, dass "Selfrating" (Achtung: Unter "Selbstregulie-
rung" verstehen Regulierer etwas anders als Fitug-Mailinglistenleser
oder Netzfundis!) jemals eine ernsthafte Alternative gewesen sei,
sollte doch evtl. mal wieder einen Realitaetsabgleich machen ,)

> Da fragt man sich, ob den Verantwortlichen klar ist, was sie da tun.
> Bei Filmen funktioniert das ja nur deswegen, weil Filme teure
> kommerzielle Projekte sind, die darauf angewiesen sind, daß sie eine
> möglichst große Reichweite haben. Hersteller von Filmen haben daher
> ein ureigenstes Interesse daran, ihren Film möglichst niedrig zu
> raten.

> Bei Webseiten ist es nicht so. Der weitaus überwiegende Content
> (aller Content außer den wenigen kommerziell produzierten Sites) ist
> ja privat produziert, und den Herstellern dieses Contents kann
> glaube ich nix egaler sein als die Frage, ob Jugendliche ihre Seite
> sehen können.

Dazu gibt es ein recht eindeutiges Statement aus der ICRA-Fruehphase,
von Ola-Kristian Hoff, ehemaliger Europa-Direktor:

-snip- http://www.heise.de/newsticker/data/jk-14.12.00-006/ (ja, 2000)

[..] Das ICRA-Argument zur Frage, warum man sich denn seine Website
selbst klasifizieren sollte, zeigt aber auch noch einen anderen
Zensurmechanismus. "Wenn Sie eine kommerzielle Seite betreiben, die
kein oder wenig angreifbares Material enthält, wollen sie doch sicher
nicht, dass Ihre Seite 'by default' geblockt wird." Im Klartext: Wenn
ICRA sich durchsetzt, bleibt den Anbietern nichts anderes übrig, als
sich selbst nach dem ICRA-System einzustufen, wollen sie nicht Gefahr
laufen, von vornherein ausgefiltert zu werden. Die Frage, wie viele
Anbieter sich wissentlich oder unwissentlich falsch einstufen werden,
bleibt dabei allerdings weiter unbeantwortet. "Wir sind mit
Unternehmen im Gespräch, die uns automatisierte Systeme bei der
Überprüfung von Ratings zur Verfügung stellen können", sagt Hoff.
"Wenn eine Seite 'null-null-null'-bewertet ist, aber 120 Mal das Wort
Sex vorkommt, kann man checken, was es für eine Seite ist."

Selbst innerhalb der Europäischen Kommission, die das Projekt fördert,
ist aber nicht unumstritten, ob eine Verlagerung der "Filterlast" auf
alle Inhalteanbieter sinnvoll ist. Leicht könnte ein "faktischer"
Rating-Zwang dadurch entstehen, dass große Unternehmen einfach durch
ihre Marktposition ein Filtersystem durchsetzen. 80 Prozent des
Internet-Verkehrs könnte durch eine Rating der 1000 wichtigsten Seiten
erfasst werden, meint Hoff. [..]

-snip- --------------------------------------------------------------

Vor drei Jahren mag man noch gelaechelt haben, inzwischen gibt es den
JMStV ...
D.h. man will nur die grossen und kommerziellen (Broadcast-)Seiten,
der Rest soll schauen wo er bleibt und/oder landet halt mit Pech im
(Content-)Sieb. Das ist soweit auch die Position, die auf den Medien-
tagen als neues Evangelium verkuendet wurde.

..

> Eine Pflicht zur Selbsteinstufung kann nur dann funktionieren, wenn die
> Hersteller jugendfreien Contents also gezwungen werden, ihren Content auch
> als jugendfrei zu raten. Andernfalls ändert sich gegenüber der jetzigen
> Situation (ungerateter Content gilt als "Frei ab 18") genau gar nix.

Das haengt freilich davon ab, ob und in welcher Form Filter eingesetzt
werden (muessen?). Ich spekuliere mal wild:

 Stufe 1) Selfrating + nutzerautonomer Filter, davon verabschiedet
          man sich gerade.
 
 Stufe 2) Selfrating, zusaetzlich Contentscreening + nutzerautonomer
          Filter und/oder "familientauglich gefilterte Angebote" auf
          ICRAplus-Basis, als optionales Angebot beim Provider. Genau
          das wird gerade auf ICRA.org beworben. Sollte das mit den
          Familienangeboten einigermassen funktionieren, kann man
          Stufe 3 angehen:

 Stufe 3) Damit 2 "sicher" wird, braucht man ein Chipkarte, damit
          $Provider "Frei ab 18"-Content freigibt [1]. Utopie? Nein,
          schlichte Ansage der KJM fuer Fickelcontent, ganz aktuell.
          
          Auf genau diese Art sollen sich Kunden demnaechst autori-
          sieren. Wenn auch zunaechst gegenueber dem AVS der ein-
          zelnen Zielserver.

          "Unzulaessige Inhalte" werden selbstverstaendlich gleich
          geblockt.

 Stufe 4) wie 3, nur vorgeschrieben.

Gewiss, bis es soweit ist, wird noch ein wenig Wasser den Rhein und
die Spree runterfliessen. Nur wieder hoch, das fliesst Wasser be-
kanntlich selten.

>>   - "Das Internet wird sich verändern" war eine mehrfach geäußerte
>>     Meinung, bezogen auf das freie Kommunikationsnetz etc.
>>     Und zwar: das Internet so wie wir hier es kennen, sehen die meisten
>>     als nicht mehr haltbar an. Dies Zeichnet sich ja auch schon ab:
>>     je nach Interessensgebiet gibt es quasi RTL II, Spiegel Online
>>     oder T-Online.

> Ein weiterer Punkt, der medienpolitisch nicht verstanden worden ist. Wenn die
> Länge der Publishing Pipeline zwei oder kürzer ist, dann gibt es "das
> Internet" als öffentlich wahrgenommenen Raum in dieser Form nicht mehr.

Sender und Empfaenger muessen sich allerdings auch erst einmal finden.
Das kann man notfalls verhindern oder zumindest erschweren. Siehe den
Vorstoss von Buessow/Schuette bzw. Machill (Bertelsmann Stiftung, Ex-
ICRA ../Schindler (jugendschutz.net) Richtung Suchmaschinen.

  [Den Rest habe ich auch gelesen und verstanden]

Ich fand Hoffs Argument mit den "1000 wichtigsten" Seiten recht inte-
ressant. Und den Rest, nun, den kann man mehr oder weniger schlecht
automatisch bewerten oder bewerten lassen. Kollateralschaeden? Muss
man mit leben ..

>>   - die Anderen versuchen mit dem Internet Geld zu verdienen, und zwar
>>     durch Vermarktung von Inhalten etc, weniger durch das Angebot an
>>     Netzzugang

> Das ist der Teil "das Internet", der noch am ehesten mit dem konventionellen
> Regulierungsansatz der alten Massenmedien zu erwischen ist. Es ist aber der
> kleinere Teil dessen, was ich als "das Internet" erlebe.

Du bist ja auch ein Sonderling ,) Im Grunde sind wir alle Sonderlinge,
die sich "obskure "Freiheitsrechte", die es nie gab, auf Kosten von
wehrloser Opfer sichern wollen." (O-Ton Buessow. So oder so aehnlich
jedenfalls).

Persoenlich halte ich ICRA (leider inzwischen auch wg. der Unter-
stuetzung durch das eco Electronic Commerce Forum und in politischen
Kreisen ("Kleineres Uebel"?!) [2]) aber fuer eine weit groessere Gefahr
fuer das Internet als Herrn Buessow.


MfG
 Olaf

[1] Intern knallt es bei der ICRA gerade wohl gewaltig, vor allem wg.
    der (und eigentlich doch wenig ueberraschenden) mehr oder minder
    offenen Abkehr vom Konzept des Selfratings. Hoff hat das Board
    inzwischen verlassen.
[2] http://www.eco.de/servlet/PB/menu/1211767_l1/index.html


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