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[Debate] Zivilgesellschaft fordert Ministerin zum endgültigen Stopp der Vorratsdatenspeicherung auf



Pressemitteilung des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung vom 
20.04.2010:

Zivilgesellschaft fordert Ministerin zum endgültigen Stopp der 
Vorratsdatenspeicherung auf

Über 40 Organisationen und Verbände haben Bundesjustizministerin 
Leutheusser-Schnarrenberger gestern in einem gemeinsamen Brief 
aufgefordert, "sich auf europäischer Ebene klar für eine Abschaffung 
der EU-Mindestvorgaben zur Vorratsdatenspeicherung einzusetzen". Zur 
Begründung schreiben die Verbände, der EU-Zwang zur Speicherung 
aller Verbindungsdaten setze vertrauliche Tätigkeiten und Kontakte 
etwa zu Journalisten, Beratungsstellen und Geschäftspartnern dem 
ständigen Risiko eines Bekanntwerdens durch Datenpannen und -
missbrauch aus, ziehe unvertretbare Kosten nach sich und behindere 
die Kommunikationsfreiheit unzumutbar. Zu den 48 Unterzeichnern des 
Schreibens zählen Bürgerrechts-, Datenschutz- und 
Menschenrechtsorganisationen ebenso wie Telefonseelsorge- und 
Notrufvereine, Berufsverbände etwa von Journalisten, Juristen und 
Ärzten, Gewerkschaften wie ver.di, der Verbraucherzentrale-
Bundesverband und der Wirtschaftsverband eco.

Am 2. März 2010 hat das Bundesverfassungsgericht auf die Beschwerden 
von über 34.000 Bürgerinnen und Bürgern die deutschen Vorschriften 
zur Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten für verfassungswidrig 
und nichtig erklärt. Eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 schreibt 
jedoch europaweit eine Vorratsdatenspeicherung vor und zwingt 
Deutschland dadurch zur Wiedereinführung der verdachtslosen 
Vorratsdatensammlung. Die EU-Kommission prüft derzeit eine Änderung 
dieser Richtlinie.[1] Die Bundesjustizministerin als Vertreterin 
Deutschlands im EU-Rat hat sich bislang noch nicht klar für ein Ende 
des EU-Speicherzwangs eingesetzt.[2]

"Der 2005 beschlossene EU-weite Zwang zur flächendeckenden 
Verbindungsdatenspeicherung hat sich überlebt", kommentiert Patrick 
Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. "Eine 
Vorratsdatenspeicherung hat sich in vielen Staaten in und außerhalb 
Europas als überflüssig, schädlich und verfassungswidrig erwiesen, 
so in Deutschland, Österreich, Belgien, Griechenland, Rumänien und 
Schweden. Diese Staaten verfolgen Straftaten ebenso effektiv mit 
gezielten Verfahren, wie sie etwa in der internationalen Cybercrime-
Konvention[3] vereinbart sind. Wo eine Vorratsdatenspeicherung 
eingeführt wurde, hat sie die Zahl der aufgeklärten Straftaten nicht 
erhöht. Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen etwa 
wurden 2007 84%[4], nach Einführung einer Vorratsdatenspeicherung im 
Jahr 2008 77%[5] und 2009 ebenfalls 77%[6] der bekannt gewordenen 
Internetdelikte aufgeklärt. Nützlichkeit ist nicht gleich 
Notwendigkeit. Die EU-Vorgaben müssen jetzt flexibler gestaltet 
werden und intelligentere Alternativen als eine ungezielte 
Datenanhäufung zulassen."

"Rund 70% der Bundesbürgerinnen und -bürger lehnen eine 
verdachtslose Protokollierung ihrer Kontakte und Aufenthaltsorte 
ab[7]", erklärt Florian Altherr vom Arbeitskreis 
Vorratsdatenspeicherung. "Sie wollen sicher sein, dass ihre privaten 
und geschäftlichen Kontakte etwa zu Eheberatungsstellen, 
Rechtsanwälten oder Journalisten nicht in die falschen Hände geraten 
oder zu einem falschen Verdacht gegen sie führen können. Die vielen 
Datenskandale, etwa bei der Deutschen Telekom, haben uns gelehrt, 
dass nur nicht gespeicherte Daten sichere Daten sind. Deswegen 
erwartet die Zivilgesellschaft von der Bundesjustizministerin jetzt, 
dass sie ihre abwartende Haltung aufgibt und in Europa für ein Ende 
des Zwangs zur Erfassung aller Verbindungsdaten kämpft!"


Der Brief an die Bundesjustizministerin vom 19. April 2010 im 
Wortlaut:

Bundesministerin der Justiz
Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Mohrenstraße 37
10117 Berlin

Sehr geehrte Frau Bundesministerin,

kaum hat das Bundesverfassungsgericht am 2. März 2010 die deutschen 
Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig und 
nichtig erklärt, wird von nicht Wenigen die Wiedereinführung einer 
Vorratsdatenspeicherung gefordert.

Eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 sieht vor, dass 
Telekommunikationsunternehmen verpflichtet werden sollen, Daten über 
die Kommunikation ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern. Zur 
verbesserten Strafverfolgung soll nachvollziehbar sein, wer mit wem 
in den letzten sechs Monaten per Telefon, Handy oder E-Mail in 
Verbindung gestanden hat. Bei Handy-Telefonaten und SMS soll auch 
der jeweilige Standort des Benutzers festgehalten werden. In 
Verbindung mit anderen Informationen soll zudem die Nutzung des 
Internet nachvollziehbar sein.

Eine derart weitreichende Registrierung des Verhaltens der Menschen 
in Deutschland halten wir für inakzeptabel. Im Zuge einer 
Vorratsdatenspeicherung werden ohne jeden Verdacht einer Straftat 
sensible Informationen über die sozialen Beziehungen (einschließlich 
Geschäftsbeziehungen), die Bewegungen und die individuelle 
Lebenssituation (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, 
Betriebsräten, Psychologen, Beratungsstellen) von über 80 Millionen 
Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern gesammelt. Damit höhlt eine 
Vorratsdatenspeicherung Anwalts-, Arzt-, Seelsorge-, Beratungs- und 
andere Berufsgeheimnisse aus und begünstigt Datenpannen und -
missbrauch. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und 
beschädigt damit die Pressefreiheit im Kern. Sie beeinträchtigt 
insgesamt die Funktionsbedingungen unseres freiheitlichen 
demokratischen Gemeinwesens. Die enormen Kosten einer 
Vorratsdatenspeicherung unter Beachtung der verfassungsrechtlichen 
Vorgaben steigen gegenüber den bisherigen Schätzungen deutlich und 
sind ohne Erstattungsregelung von den über 6.000 betroffenen 
Telekommunikationsunternehmen in Deutschland zu tragen. Dies zieht 
Preiserhöhungen nach sich, führt zur Einstellung von Angeboten und 
belastet mittelbar auch die Verbraucher.

Untersuchungen belegen, dass bereits die gegenwärtig verfügbaren 
Kommunikationsdaten ganz regelmäßig zur effektiven Aufklärung von 
Straftaten ausreichen. Es ist nicht nachgewiesen, dass eine 
Vorratsdatenspeicherung besser vor Kriminalität schützte. Dagegen 
kostet sie Millionen von Euro, gefährdet die Privatsphäre 
Unschuldiger, beeinträchtigt vertrauliche Kommunikation und ebnet 
den Weg in eine immer weiter reichende Massenansammlung von 
Informationen über die gesamte Bevölkerung.

Rechtsexperten erwarten, dass der Europäische Gerichtshof für 
Menschenrechte im Anschluss an den Verfassungsgerichtshof Rumäniens 
eine Pflicht zur verdachtslosen Vorratsspeicherung von 
Kommunikationsdaten für unvereinbar mit der Europäischen 
Menschenrechtskonvention erklären wird. EU-Justizkommissarin Viviane 
Reding und EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström haben bereits eine 
Überprüfung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf ihre 
Übereinstimmung mit der EU-Grundrechtecharta angekündigt.

Als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger, der Medien, der 
Berufstätigen und der Wirtschaft lehnen wir die Forderungen nach 
einer Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung geschlossen ab. 
Wir appellieren an Sie, sich ungeachtet eines möglichen 
Vertragsverletzungsverfahrens grundsätzlich von der Forderung nach 
einer neuerlichen umfassenden und verdachtsunabhängigen Speicherung 
von Telekommunikationsdaten zu distanzieren. Stattdessen rufen wir 
Sie auf, sich auf europäischer Ebene klar für eine Abschaffung der 
EU-Mindestvorgaben zur Vorratsdatenspeicherung einzusetzen, damit 
jeder europäische Staat wieder selbst über die Gewährleistung des 
Kommunikationsgeheimnisses seiner Bürgerinnen und Bürger entscheiden 
kann. Seien Sie sich unserer Unterstützung dabei versichert.

Mit freundlichen Grüßen,

 1. Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
 2. Aktion Freiheit statt Angst e.V.
 3. Attac Deutschland
 4. Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler e.V.
 5. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP)
 6. Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten (Hamburger Signal) e.V.
 7. Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe - Frauen gegen Gewalt e.V.
 8. Chaos Computer Club e.V.
 9. Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
10. Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union dju in ver.di
11. Deutscher Journalisten-Verband e. V.
12. Deutscher Presserat
13. DFJV Deutscher Fachjournalisten-Verband AG
14. DPV Deutscher Presse Verband - Verband für Journalisten e.V.
15. DVD - Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V.
16. eco - Verband der deutschen Internetwirtschaft e.V.
17. Ev. Konferenz für Telefonseelsorge und Offene Tür e.V.
18. FIfF - Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.
19. FoeBuD e.V.
20. Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG) e.V.
21. Forum Menschenrechte e.V.
22. Free Software Foundation Europe e.V.
23. FREELENS e.V.
24. Freie Ärzteschaft e.V.
25. Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit e. V. (GDD)
26. Humanistische Union e.V.
27. IALANA
28. IG Bauen-Agrar-Umwelt
29. Internationale Liga für Menschenrechte e.V.
30. Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
31. Lesben- und Schwulenverband LSVD
32. Magistrats européens pour la Démocratie et les Libertés - MEDEL
33. naiin - no abuse in internet e.V.
34. NAV-Virchow-Bund - Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e.V.
35. Netzwerk Neue Medien e.V.
36. netzwerk recherche e.V.
37. Neue Richtervereinigung e.V.
38. Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen
39. PRO ASYL e.V.
40. Reporter ohne Grenzen e.V.
41. Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
42. Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren VFLL e.V.
43. Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e.V.
44. Verbraucherzentrale Bundesverband e.V.
45. Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
46. Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.
47. Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) 

Fußnoten und Belege:
 1. Evaluierung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/RoomDocumentEvaluationDirective200624EC.pdf
 2. Stellungnahme Deutschlands: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/DR-consult/de_ms_de.pdf
    Stellungnahme des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/antworten_kommission_vds_2009-11-13.pdf
 3. Die Cybercrime-Konvention: http://conventions.coe.int/treaty/ger/treaties/html/185.htm
 4. Aufklärungsrate 2007: http://www.polizei-nrw.de/lka/stepone/data/downloads/08/01/00/kriminalitaetsentwicklung_pks_nrw_2007.pdf
 5. Aufklärungsrate 2008: http://www.polizei-nrw.de/lka/stepone/data/downloads/45/01/00/pks-nrw-jahresbericht-2008.pdf
 6. Aufklärungsrate 2009: http://www.polizei-nrw.de/lka/stepone/data/downloads/6a/01/00/pks-jahresbericht2009.pdf
 7. Meinungsumfrage zur Vorratsdatenspeicherung: https://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/infas-umfrage.pdf

Diese Pressemitteilung im Internet: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/362/79/

Der Gemeinsame Brief im pdf-Format: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/brief_vorratsdatenspeicherung_2010-04-19_anonymis.pdf

Über uns:
Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) ist ein 
bundesweiter Zusammenschluss von Bürgerrechtlern, Datenschützern und 
Internet-Nutzern, die sich für den Schutz unserer Freiheitsrechte in 
Zeiten ausufernder Überwachung einsetzen. Wir wehren uns gegen die 
Vorratsdatenspeicherung, weil sie vertrauliche Tätigkeiten und 
Kontakte etwa zu Journalisten, Beratungsstellen und 
Geschäftspartnern dem Risiko eines Bekanntwerdens aussetzt und 
dadurch unzumutbar behindert. Der Arbeitskreis hat die mit über 
34.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern größte Verfassungsbeschwerde 
der Bundesrepublik initiiert.
http://www.vorratsdatenspeicherung.de

Ansprechpartner/innen für Presseanfragen (bitte nicht veröffentlichen):
- Herr Florian Altherr, Mainz, Mobil: 0179 / 9 76 32 33
- Herr Werner Hülsmann, Konstanz, Tel. 07531 / 3 65 90 56 oder Mobil: 0177 / 2 82 86 81
- Frau Sandra Mamitzsch, Ingolstadt, Mobil: 0160 / 6 00 79 90
- Herr padeluun, Bielefeld, Tel. 0521 / 175254, Mobil: 0175 / 9 84 99 33
- Herr Kai-Uwe Steffens, Hamburg, Mobil: 0160 / 94 84 79 38

Alle Ansprechpartner/innen erreichen Sie auch per E-Mail an 
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