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Online-Charta, etc.



Zu der »Charta« hänge ich mal das folgende an, das ich vor ein
paar Wochen dazu geschrieben habe.  Ich denke, ein weiterer
Kommentar erübrigt sich - der Text enthält Phrasen, Phrasen und
nochmals Phrasen, sonst nichts. 

tlr
---------- Forwarded message ----------
Date: Wed, 27 Nov 1996 16:09:35 +0100 (MET)
From: Thomas Roessler <roessler@sobolev.rhein.de>
Subject: Re: Wir sind das Netz! (Fwd)

On Tue, 26 Nov 1996, Alexander Stirn wrote:

> werden von Diktaturen mit Stvrsendern bekdmpft. Und die weltweit
> freie Rede in den Computernetzwerken dngstigt China und CompuServe.

*grins*

> 7. Da keine Freiheit grenzenlos sein kann, sollte die Achtung der
> Freiheit der anderen User in Computernetzen zundchst wie bisher in
> freiwilliger kollektiver Selbstkontrolle (Netiquette) und notfalls
> durch abgestufte, rechtsstaatliche Sanktionen unabhdngiger Instanzen
> durchgesetzt werden (Netzgerichtsbarkeit). Zensur darf nicht
> stattfinden.

Eine eigene Netzgerichtsbarkeit ist schlichte Utopie.  Ich wage zu
bezweifeln, daß in den nächsten fünfzig Jahren irgend ein Staat einen
Teil seiner Souveränität abgibt, um »freie Rede in den Netzen« zu
gewährleisten.

> 10. Gegen jeden, der es unternimmt, diesen Kodex weltweiter
> Kommunikation durch Zensur, Mi_brauch von Marktmacht oder Methoden
> unlauterer Desinformation au_er Kraft zu setzen, hat jeder User der
> Computernetze unabhdngig von Vertrdgen das moralische Recht und die
> Pflicht zum virtuellen Widerstand. Wir sind das Netz!

Schön formuliert.  Aber was bitte heißt denn hier »Recht zum
virtuellen Widerstand«?  Zunächst mal ist »virtueller Widerstand« eine
Formulierung von beträchtlicher unfreiwilliger Komik.  Ein Blick in
den Duden ergibt das folgende: »virtuell, Adj.  [...]  entsprechend
seiner Anlage als Möglichkeit vorhanden, die Möglichkeit zu etwas in
sich begreifend: Ein virtueller Gegensatz der Interessen.« Nun gut.

Schauen wir uns an, was gemeint sein könnte.  Da ist zunächst mal die
Möglichkeit des Hacking und anderer »technischer« Formen des
»Widerstands«.  Diese sind im Zweifelsfalle illegal und verstoßen
gegen Nutzerverträge; eine Versammlung von Compuservenutzern wird wohl
kaum für sich in Anspruch nehmen können, hier eine juristische
Absolution zu erteilen (deshalb schreibt man dann auch vom
*moralischen* Recht, das jeder unabhängig von Verträgen habe).

Wir sind damit relativ nahe beim eigentlichen Wesen eines »Rechtes auf
Widerstand«: Es handelt sich bei dem im Grundgesetz festgeschriebenen
letztlich um die Aussage, daß der Staat mit seiner Legitimation
automatisch sein Gewaltmonopol verliert.  Die Idee dahinter liegt auf
der Hand - wenn die Gemeinschaft in Gestalt des Staatswesens es
aufgibt, die Rechte des einzelnen zu schützen, muß dieser dies selbst
in die Hand nehmen bzw. dafür eintreten, daß die Gemeinschaft ihre
Pflichten wieder wahrnimmt.  Ein solches Recht auf Widerstand greift
also in einer Ausnahmesituation als ultima ratio.

Die »Wartburg-Erklärung« tut demnach so, als sei im Netz eine
Ausnahmesituation gegeben, in der jegliche legalen Mittel versagen.
Dem ist aber nicht so - das Netz steht gerade *nicht* außerhalb
jeglicher Gerichtsbarkeit, auch ein Unternehmen wie Compuserve ist in
seinem Geschäftsgebahren selbstverständlich an die nationalen Gesetze
gebunden.  Es braucht gegen ein solches Unternehmen nicht etwa
Widerstand oder eine Netzgerichtsbarkeit, sondern Leute, die bereit
sind, den bestehenden Rechtsweg einzuschlagen.

Kommen wir noch einmal zurück zu der Frage, was mit dem »virtuellen
Widerstand« gemeint sein könnte.  Nachdem wir oben das Hacking
ausgeschlossen haben, bleibt also der öffentliche Protest, bleibt die
Diskussion in den traditionellen und den Online-Medien.  Wie der Text
allerdings in den ersten Abschnitten durchdekliniert, handelt es sich
bei einer solchen Debatte um die Ausübung eines Grundrechts.  Fragt
sich, ob man eine solche wirklich in ein »Recht auf Widerstand« fassen
möchte.  Denn sie ist *gerade* *nicht* eine Handlung, die nur als
ultima ratio erlaubt sein soll.

Was bleibt also von §10?  Heiße Luft, so scheint es.

tlr
-- 
Thomas Roessler                  	  http://home.pages.de/~roessler/