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Re: Fwd: WWW-Proxy Zensur an Unis (fwd)



Moin,

Holger, wir liegen in den meisten Punkten nicht weit auseinander.
Solch eine Grundsatzdebatte darueber zu fuehren, warum wissenschaftlich
keinerlei Zensur hinzunehmen ist, ist hier fast nicht ertraeglich,
deshalb werde ich meinerseits nur noch eine weitere Runde zwecks
Explikation und Praezisierung dranhaengen.

>Na Vorsicht dabei. Es geht da gar nicht als solches um den Zugang zu 
>Wissen mit oder ohne Anmeldung und Abnicken. Ich wehre mich gegen die
>Pauschalisierung, dass jedermann, der eine Uni-Bibliothek betritt,
>damit gleichzeitig Wissenschaftler ist und dann die Freiheit von
>Lehre und Forschung fuer sich in Anspruch nehmen kann. Das ist eine

Ich biete gefaehrlich gefaehrlich eine These mit maximalem
Informationsgehalt an: Um einen Wissenschaftler handelt es sich von
dem Moment an, an dem er/sie oeffentlich publiziert. Ganz gleich, wie
sensationell die Befunde und die Brillianz des Verstands eines
Forschers auch ohne Publikation ausgebildet sind, ohne Publikation
keine Wissenschaft, weil andere Wissenschaftler Theorie, Methode und
Ergebnisse entlang der Informationen-generierenden Differenz von
wahr/falsch zu kommentieren haben. (Dadurch entsteht Objektivitaet
und kommt wissenschaftliche Evolution zustande: eine Variation
codifizierter Beobachtungen durch Selektion bestimmter Themen und
Beitraege zu stabilen Strukturen. "Veroeffentlichung" ist bei
geheimer Forschung ersetzt durch Verfahrens bzw. entwickelten
Techniken, die dann erfolgreich sind oder nicht.) Und dafuer muss
umgekehrt ebenso innerhalb der Wissenschafts-Organisationen
vorbehaltlos Zugriff auf jede Mitteilung gewaehrt werden - und sei es
zum Ueben der Anfaenger, wie man auch banalste Beobachtungen in
wissenschaftliche Kommunikationen einspeist. Fuer eine Soziologin
bspw. gibt es nichts Banales - allein weil man sofort fragen kann,
warum etwas als banal gewertet wird: So lassen sich viele relevante
Seiten ueber die Geschichte und Soziologie etwa des Tassenhenkels
anfertigen (so geschehen bei Georg Simmel). Und man kann als
Nichtsoziologe (etwa aus der Position eines RZ-Sysadmins oder
-Leiters oder eines Politikers...) Soziologen kaum vorschreiben, was
fuer sie als forschungswuerdig zu gelten hat und was nicht -> als
Korrektiv bleiben nur die Kommentare in den Fachpublikationen. Und es
muss wenn dann _wissenschaftlich_, also an wahr/falsch orientierten
Argumenten entlang begruendet werden, warum der Zugang zu einem
Medium, das sich fuer Beobachtungen eignet, eingeschraenkt wird. Ich
denke, dass eine solche Anforderung selbstverstuemmelnd ist, weil
Wissenschaft auf universalisierte Beobachtbarkeit angelegt ist. Nur
deshalb reisse ich hier ueberhaupt mein Maul auf. Die Gefahr der
Politisierung/ Moralisierung von Wissenschaft wird unterschaetzt, die
der Kommerzialisierung ueberschaetzt. Dazu gleich noch unten.

>eklatante Verwaesserung des Begriffs Wissenschaft, da jede Person, welche
>mit allen 5 Sinnen durch die Welt wandelt und damit eigene Erkenntnisse
>gewinnt, bereits fuer sich "Wissen schafft". Ebensogut koennte ich
>alle Vorteile einer Mitgliedschaft in der Baeckerinnung in Anspruch
>nehmen wollen, weil ich soeben einen Dr.Oetker-Fertigkuchen in den
>Ofen geschoben habe.

Das Kritierium ist ausschliesslich die Publikation von Beobachtungen
(zu publizierten Beobachtungen...).

>Ferner gibt es unterschiedliche Qualitaeten der zu betrachtenden 
>Informationsquellen. Wenn aus dem Playboy etc. kopierte Bilder aus 
>...
>ueber Sex mit dem Staubsauger rechtfertigen m.A. keine Auffuellung mit 
>Trivialliteratur, deren Erkenntnisgewinn bestenfalls marginal ist.

Ich werde mich sicher nicht auf Bizzares einlassen. Natuerlich ist
das marginal (irgendwo aber sollte sogar die Praline archiviert
werden - ich hoffe doch in der deutschen Zentralbibliothek).

>Merke: Information selbst ist in seiner Praesentationsweise nicht
>unbedingt wertfrei; es ist durchaus ein Unterschied zwischen einer
>Detailaufnahme einer Vagina in einem gyn. Lehrbuch und einer aus dem Playboy
>(auch wenn letzterer ueblicherweise den Fokus weniger auf den "pink spot"
>lenkt).

Psychisch und kommunikativ ist es doch forschungswuerdig, hier einen
Unterschied zu behaupten. Als Wichsvorlage fuer Arme (also:
Jugendliche) gab es etwa bis in die 60er Jahre hinein keine
Alternative zu Medizinbuechern. Auch das: hoch forschungswuerdig!
Etwa unter dem Aspekt, ob mit der Zugaenglichkeit von zunehmend auf
Geilheitsgewinn angelegte Bilder Masturbation tendentiell eher zu
oder abgenommen hat.

>Ferner spielt im Ganzen auch noch die Verantwortung des Wissenschaftlers
>gegenueber der Gesellschaft eine Rolle. Der Typus "Frankenstein" oder
>"Dr. Jekyll", welcher ohne Verantwortungsbewusstsein einfach nur die
>Grenzen des Machbaren auslotet, existiert in dieser Form nicht; und zwar
>nicht deswegen, weil ihm die Gesellschaft irgendwelche Grenzen auferlegt,
>selbst wenn es etwa bei der Gentechnik so aussieht, sondern weil diese
>Grenzen selbst gesetzt sind. Das heisst bezogen auf die Frage nach Zensur,
>dass die Entscheidung, ob etwa angesprochene Quellen genutzt werden oder
>nicht, von der wissenschaftlichen Community selbst getroffen wird, nicht
>vom entsprechenden Gesetzgeber oder den Moralvorstellungen der Gesellschaft.

Ja, genau. Wissenschaft selbst ist schrankenlos auf kontrollierte
Komplexitaetsgewinne hin angelegt, wissenschaftlich reguliert von der
Fachoeffentlichkeit und den Schulbuchschreibern und -verlagen. Hier
aber von der Verantwortung des Einzelnen zu sprechen halte ich fuer
einen hilflos-romantischen und weit verbreiteten Weizenbaum-Unsinn
der Personalisierung gesellschaftlicher Konflikte.

Jetzt halte aber auch dieses Argument fest: Weil es diese Community
(die eigentlich eine Society sein sollte) als Steuerungsinstanz
unbestritten gibt (es gibt eine Sphaere wissenschaftlicher
Publikationen), ist Wissenschaft auch nicht massgeblich
kapitalgelenkt, sondern unterliegt einer Eigenlogik der Evolution von
Memen. Durch Publikation wird der Produktionsfaktor
"Know-How-Differenz" schlagartig entwertet, also gewissermassen
entkapitalisiert, sozialisiert, jede Mitteilung, die aus der
Datenbank abgerufen wird, entwertet die Datenbank. Ohne Publikation
handelt es sich nicht um Wissenschaft. Natuerlich: Kapital _stoert_
das Wissenschaftssystem, ebenso wie Politik oder Moral es stoeren.
Wenn die Publikation und damit die Beobachtbarkeit durch die
Geldgeber nicht eingeschraenkt werden, ist allein wissenschaftlich
gegen diese moeglichen Stoerungen nichts einzuwenden. Die
Korrekturfunktion etwa von zurechtgebogenen Daten und (zumeist
unterbliebenen) Folgerungen setzt dann auf der naechst hoeheren
Schicht der Fachoeffentlichkeit ein. Und man ist bei nachgewiesenen
wissenschaftlichen Verfehlungen dann wissenschaftlich diskreditiert.

>Der Wissenschaftler *weiss*, dass er, wenn er den geeigneten Auftrag
>vorweisen kann, dass er auf die eine oder andere Weise Zugang zum gefragten
>Material bekommen kann - es ist dann genau genommen ein Problem der
>Gesellschaft, wie schwierig die Recherche sich gestaltet und wie wichtig
>der Gesellschaft der erhoffte Erkenntnisgewinn ist. 

Ja. Wissenschaft muss sich aber auch gegen Erschwernisse aus deren
Umwelt wehren. Sie hat immer mit Moral und Ethik zu rechnen, die
nicht mehr von der entmachteten Kirche, sondern nachdruecklich von der
Boulevard-Presse formuliert werden.

>> den Unis sollte genau der gesellschaftliche Ort sein, dem Falschen
>> oder zumindest dem Historischen von Political Correctness auf die
>> Spur zu kommen, einfach weil es sonst keinen anderen Ort dafuer gibt.
>
>Das war sie vielleicht mal, als Ideal angedacht, zu Humboldts Zeiten.

Scharfer Widerspruch: Was Du als hinfaellig gewordenes Ideal abtust,
ist nach wie vor _konstitutiv_ fuer Wissenschaft.

>Das Oxymoron "anwendungsorientierte Forschung" zeigt aber deutlich, dass
>die Unis mittlerweile nur noch ein Steinbruch sind, um tieferliegendere
>Probleme der Gesellschaft zu flicken. Die Unis sind Teil der Gesellschaft,

Im Beschreiben der Situation stimmen wir ueberein. Nur ich begruende
diese vermutlich anders. Zu dieser Situation haben nicht
uebermaechtiges Kapital und Politik ursaechlich gefuehrt, vielmehr
haben sich die Unis nicht wehren koennen, weil ihre Sozialstruktur
grandios altertuemlich ist, und damit ihre Produktivitaet so gering.
Die Sozialstruktur befindet sich auf dem Niveau des Mittelalters:
Unilever operiert als amerikanischer Flugzeugtraeger und trifft auf
Hansische Hochschul-Koggen. Wer da wen einsackt, ist dann klar. Das
Problem ist in diesem Fall nicht der Flugzeugtraeger, sondern die
Kogge. An den Unis wird deshalb jeder erdenkliche Scheiss-Auftrag
angenommen. Ich erlaube mir mal, ein Zitat von Negt/ Kluge
(Geschichte und Eigensinn) zu bringen:

"Mit Beharrlichkeit (!I)koexistieren(!i) Industrialisierung der
Gesellschaft und handwerklich bleibende Intelligenzarbeit, die    
nirgends den Ansatz macht, die Stufe der großen Maschinerie und
Kooperation zu erklimmen; das gilt für die in der Gesellschaft 
zerstreute unmittelbare Intelligenzarbeit der Produzenten ebenso wie
für die berufliche. In der Industrieproduktion wird zwar die
Intelligenztätigkeit angewendet, sie steckt ja bereits in der toten
Arbeit und muß vom einzelnen Produzenten beantwortet werden.
Sogleich zieht sie sich aber auf die handwerkliche Stufe wieder
zurück." (Negt/ Kluge 1981, 442)

Genau diese handwerkliche Situation aendert sich nun mit den Netzen.
Das heisst: Eine effiziente Diskursreproduktion der Community haette
tatsaechlich endlich eine Chance. Humboldt ist nicht vorbei,
Humboldts Ideal ist bislang nur hin und wieder mal aufgeblitzt,
obwohl es programmatisch unerlaesslich war und nach wie vor ist, es
zu formulieren und so zu tun, als laegen demokratisch verfasste
Diskursstrukturen, die sich nur einer wissenschaftlichen Eigenlogik
verdanken, vor. Die Industrialisierung von Unis bzw. des
Wissenschaftssystems steht nun bevor.

>sie stehen nicht neutralerweise als Beoachter abseits, wie man es sich
>in kuehnen Traeumen wuenschen moege. Die Gesellschaft leistet sich Wissen-
>schaft zu einem bestimmten Zweck. Die bisherige Idee war, dass Erkenntnis-

Genau, und die Funktion von Wissenschaft liegt in der eigensinnigen
Beobachtung der Welt nach der wahr/falsch-Differenz, nicht nach
unmittelbarer kapitalistischer, technischer oder politischer
Verwertbarkeit oder auch nur zur Unterhaltung. Das erste
Gorleben-Gutachten war Pro-Bundesregierung, dann folgten die
Freiburger mit einem Gegengutachten und dann musste wirklich ein
Gutachten nach genuin wissenschaftlichen Massstaeben erstellt her.

>gewinn in allgemeiner Form zum Vorteile der Gesellschaft sei; dieses
>wurde jedoch spaeter zu konkreter *verwertbaren* Zielen hin bastardisiert,
>wie dem "greifbaren" Teflonpfannen-Effekt. Mittlerweile stellt man (d.h.
>die Machthaber) fest, dass man sich mit den losen Zuegeln fuer die Forschung
>das Problem eingehandelt hat, dass auch unliebsame Information zutage tritt,
>und versucht jetzt krampfhaft, die wassertragenden Besen wieder in die Ecke
>zu bringen. Dass das eine "unheilige Entwicklung" ist, darin stimmen wir
>ueberein.

Machthaber innerhalb der Wissenschaftsorganisationen sind das
Problem, und dass diese Filter (Gremien, Redaktionen und
Kultusbehoerden) NICHT demokratisch legitimiert sind und sich rein
gar nicht nach dem ansonst geltenden Prinzip der diskursiv gewonnenen
Urteile richten. Der Einsatz von Kommunikationstechik untergraebt
zunaechst einmal deren Positionen, zumindest muessen sie sich
staerker denn je legitimieren. Und die externen Machthaber (in
Deutschland vor allem: Kultusbehoerden) fuerchten nicht die unliebsam
aufklarerischen Informationen (ganz im Gegenteil! Es kann gar nicht
radikal genug sein. Die Frage ist dann nur, ob die Publikation
unterdrueckt wird oder nicht.), sondern sehen die Unis (zu Recht) nur
noch als schwarze Finanzloecher mit einer Produktivitaet knapp ueber
Null. Der Unibetrieb wird trotzdem leidlich aufrecht erhalten nicht
der Forschung wegen, sondern als kaum getarntes Programm gegen
Arbeitslosigkeit.

>Die Gesellschaft ist bereits dabei, sich der Wissenschaft zu entledigen,
>und alle, sogar die Wissenschaftler spielen dabei kraeftig mit. Der

Weil sie auf ihre alte undemokratische, unproduktive Zunftordnung 
bestehen.

>Konzern Wissenschaft hat spaetestens mit dem Verkauf seiner Seele an
>die Geldgeber seine Unschuld verloren, moeglicherweise aber schon frueher,
>indem Wissen selbst zur Ware geworden ist, durch welche objektive Erkenntnis
>relativiert wurde. Man kann zu jeder Position eine Gegenposition finden und

Nein, das ist nicht der Punkt. Objektivitaet ist herzustellen einzig
durch Oeffentlichkeit, und die kann hergestellt werden. Wissen ist
nur dann eine Ware, wenn Du einen oekonomischen Blick drauf wirfst
oder meinst, dieser Blick sei der einzig ausschlaggebende. Das halte
ich (zwar als pseudokritischen Allgemeinplatz fuer verstaendlich),
aber analytisch doch unzulaessig stark verkuerzend. Wissen ist ebenso
Macht, wenn Du politisch guckst. Oder untergruendig kulturell
ueberformt (bei uns heisst das: christlich durchwirkt. Das zeigt sich
zum Beispiel darin, dass Richtiges und Gutes nur durch Leid
zustandekommen kann. Oder in der Struktur der Sprache: Der Wind weht.
Ist natuerlich Unsinn: Wer oder was ist hier "der Wind" als
Kausalitaets-Unterstellung? Zu beobachten ist zunaechst nur "Wehen").

>fuer beide Seiten eine geeignete Kundschaft finden. Dass Wissenschaftler
>zurueckhaltend sind, wenn es um die Beziehung konkreter Positionen geht,
>weil sie unsicher bezueglich der absoluten Wahrheit sind, erweist sich
>hier als fatal, weil die Zurueckhaltung zu einer Beliebigkeit des Wissens
>fuehrt. Die Gesellschaft erwartet Antworten, sie ist sich ihrer eigenen

Sie halten sich nicht zurueck, wenn ihre Publikationen
Fachdiskussionen ueberstanden haben und allenfals die paar bekannten
Dauerstaenkerer uebriggeblieben sind. Dann wird erbarmungslos eine
Position vertreten (so sehr, dass benachbarte Lehrstuehle wegen z.B.
der Interpretation einer 10er-Potenz verfeindet sein koennen
(typischer Zustand an vielen Instituten)). Das Problem liegt
woanders: Man kann jeden Scheiss publizieren, die Fachdiskussion
findet nicht statt. Deshalb faellt dieses Regulativ praktisch mit nur
wenigen Ausnahmen aus. Das gilt es zu aendern, unter anderem indem
man keinerlei wissenschaftsexterne Zensur hinnimmt und die
wissenschaftsinternen Regulatoren demokratisch verfasst.

>Entscheidungsverantwortung nicht mehr bewusst. Wenn ein Wissenschaftler
>die orakelhafte Antwort liefert, dass Gorleben vielleicht taugt oder auch 
>nicht, aber in jedem Falle noch weitere Untersuchungen erforderlich sind,
>dann ist diese Erkenntnis banal, und nicht weniger brauchbar als die

Stimmt. Hier geht es dann vielleicht einzig darum, durch ein
Anschlussprojekt das dauerbedrohte Institut zu erhalten.

Ganz gleich, mit wem ich aus Forschung und Wissenschaft in den
letzten Jahren die Gelegenheit hatte zu sprechen, sie waren
ausnahmslos Zyniker.

Gruss, Martin
-- 
Martin Rost - maro@maroki.netzservice.de - Germany, Kiel