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Re: Futurologische Frage (was: Re: Lycos bekommt Crawler-Patent
- To: debate@fitug.de
- Subject: Re: Futurologische Frage (was: Re: Lycos bekommt Crawler-Patent
- From: Horns@t-online.de (Axel H. Horns)
- Date: Fri, 12 Jun 1998 10:00:40 +0100
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On 12 Jun 98 at 9:24, Wau Holland wrote:
[Ulf Moeller zitierend]
> >Die Formulierungen in Patenten sind ja leider auf
> >Unverstaendlichkeit hin optimiert. Wer weiss, ob da nicht
> >irgendwelche vorher nicht veroeffentlichten Tricks vorkommen.
Hmmm. Das Geruecht, dass Patente so unverstaendlich seien, um etwas
verbergen, ist offensichtlich nicht totzukriegen. Ich will versuchen,
das etwas zu erlaeutern. Vorweg: Patentschriften richten sich nie an
technische Laien, sondern an den fuer das jeweilige technische Gebiet
zustaendigen "Durchschnittsfachmann".
Erstmal miuss man sagen, wovon man spricht. Eine Patentschrift
besteht im Regelfall aus:
1) Patentbeschreibung
2) Zeichnung(en)
3) Patentanspruechen.
Worauf kommt es an, wenn der Patentinhaber einem Wettbewerber wegen
Patentverletzung ans Leder will? In allen Laendern dieser Welt more
or less auf Punkt 3, nicht so sehr auf Punkt 1. Die Beschreibung
enthaelt haeufig eine Art Besinnungsaufsatz ueber die Erfindung im
allgemeinen und besonderen, wobei die Verwirklichung der Erfindung
in einem konkreten Ausfuehrungsbeispiel moeglichst detailliert
beschrieben wird. Die Zeichnungen dienen nur zur Verbesserung der
Verstaendlichkeit der Beschreibung und - in manchen Laendern - der
Patentanspueche.
Was ist ein Patentanspruch? Grob gesagt, ein Gattungsbegriff - z.B.
"Verfahren zur Herstellung von Aethanol", "Transistor",
"PLL-Schaltung", oder dergleichen, gefolgt von einer Liste von
Merkmalen, die ein Gegenstand der angegebenen Gattung erfuellen muss,
um patentverletzend zu sein. Wenn es zum Verletzungsprozess kommt,
hakt der Verletzungsrichter Merkmal fuer Merkmal des Patentanspruches
ab und ueberlegt sich dabei seine Meinung dazu, ob das jeweilige
Merkmal bei der vom Klaeger behaupteten Verletzungsform woertlich
oder wenigstens irgendeinem technischen Sinne nach (z.B. aequivalente
Verwirklichung) gegeben ist. Wenn alle Merkmale auch an der vom
Klaeger behaupteten Verlezungsform verwirklicht sind, urteilt der
Richter auf Patentverletzung, ansonsten weist er die Klage zurueck
(alles etwas holzschnittartig vereinfacht, Dinge wie "mittelbare
Patentverletzung" lasse ich hier mal aussen vor).
Es ist also klar, dass die Formulierung des Patentanspruches in der
Patenterteilungsphase entscheidend fuer die spaetere Durchsetzbarkeit
des Patentes sein kann.
Nehmen wir eine (nur zur Demonstration dienende) "Erfindung" aus der
Toy-World an, jemand habe eine besonders rutschfeste Leiter erfunden.
Ein geradeheraus formulierter Patentanspruch koennte etwa
so lauten:
<snip>
Leiter
- mit mindestens einer Stufe,
- wobei auf der Oberseite der Stufe eine Gummiauflage angeordnet ist,
und
- wobei die Gummiauflage an der Oberseite der Stufe mit Klebstoff
befestigt ist.
</snip>
Man merkt, dass schon der einfache Versuch, eine gummibewehrte Leiter
ganz praezise zu beschreiben, zu etwas sperrigen alltagsunueblichen
Sprachkonstrukten fuehrt. Aber wirklich schlimm wird es erst dann,
wenn der Patentanwalt oder der Patentingenieur in der Patentabteilung
sich im Buerostuhl zurucklehnt und sich klarmacht, dass der
Kerngedanke der Erfindung auch z.B. bei Treppen funktionieren wuerde.
Eine "Treppe" ist aber keine "Leiter", und es ist unklar, ob ein
Verletzungsrichter eine gummibewehrte Treppe als patentverletzend
einstufen wuerde. Daher wird der Anspruch umformuliert in
"Mechanische Steighilfe, [...]". Der Patentanwalt freut sich und
denkt "damit habe ich jetzt alle denkbaren Anwendungsfaelle umfasst",
und die Oeffentlichkeit, die spaeter die Patentschrift zu lesen
bekommt, sagt: "Die spinnen ja! - Koennen die sich nicht mal
vernuenftig ausdruecken" ;-)
Die erste Regel beim Interpretieren von Patenten - auch bei dem
Lycos-Patent - ist also: Patent_ansprueche_ besorgen, Kanne Tee
kochen, in Ruhe hinsetzen, versuchen zu verstehen, was gemeint ist:
a) WAS ist der gattungsbildende Begriff der Entitaeten, die unter
den betrachteten Anspruch fallen sollen, und
b) WELCHES sind die einzelnen Elemente der Liste von Merkmalen, die
eine Instanz aus der durch den Gattungsbegriff gegebenen Klasse
erfuellen muss, um patentverlezuend zu sen?
Leuchtmarker und Stift sind sehr nuetzlich. Ich persoenlich hasse
Patentansprueche, die ohne visuelle Trennung der einzelnen Merkmale
einfach im Blicksatz gesetzt sind. Notfalls muss man eben den
Anspruch selbst noch einmal abschreiben, in der Form
<Gattungsbegriff>
- [Merkmal 1]
- [Merkmal 2]
...
- [Merkmal n]
Natuerlich gibt es auch Dinge, die der Verfasser einer Patentschrift
verbergen will. Dies betrifft aber weniger die Ansprueche, sondern
mehr die Patentbeschreibung. Wenn dort z.B. ein besonderes Verfahren
zur Chipherstellung beschrieben wird, darf man durchaus damit
rechnen, dass es nur in groben Zuegen dargestellt ist, so dass der
Fachmann weiss, worum es geht. Die kleinen Kniffe, die man in der
taeglichen Praxis braucht, um mit dem beschriebenen Verfahren
arbeiten zu koennen, wird man haeufig dort nicht dokumentieren.
Beispielsweise dass der Aetzschritt mit einer Aetzloesung des
Herstellers Y besser geht als mit dem Konkurrenzprodukt von X.
> >Aber das witzige an Server-seitigen Patenten ist ja, dass sie
> >global gesehen wirkungslos sind. In Wirklichkeit ist das nur eine
> >Wirtschaftsfoerdermassnahme zu Gunsten von Laendern mit guter
> >Internet-Anbindung, in denen kein vernuenftiger Mensch
> >Patentgebuehren bezahlen wollte oder koennte. Ob eine Suchmaschine
> >nun in den USA steht oder in Namibia, Estland, Indien ...
Das muss man m.E. differenzierter sehen. Ein Patentinhaber muss
schon aus Kosten- und Komplexitaetsreduktionsgruenden versuchen, die
Verletzung seines Patentes moeglichst an einem zentralen Punkt unter
Kontrolle zu bringen.
Nehmen wir an, ein Patent werde Clientseitig z.B. durch einen Browser
verletzt. Bei Privatleuten kann man dann sowiso nicht klagen, weil
rein private Nutzung vom Patentschutz nicht erfasst wird. Aber in den
Betrieben, Arztpraxen, Kanleien usw. findet schon eine
Verletzungshandlung statt, da hier der Browser gewerblich genutzt
wird. Aber jetzt ueber die Lande zu ziehen und alle Betriebe usw.
einzeln abzumahnen und zu verklagen, waere doch eine etwas
abenteuerliche Vorstellung. Besser kaeme es da schon, die
Distributionswege zu blockieren, aber das ist gar nicht so einfach,
denn eine Diskette mit einem Browserprogramm duerfte keine
unmittelbare Patentverletzung darstellen (hier kaeme u.U. die sog.
"mittelbare Patentverletzung" zum Zuge). Am besten ware es aber
natuerlich, wenn die Erfindung nur mit einem besonders ausgestalteten
Server zu verwirklichen waere. Dann koennte sich der Patentinhaber
darauf beschraenken, gegen diejenigen Serverbetreiber vorzugehen, die
die Erfindung nutzen und die ja allesamt gewerblich sind.
Im uebrigen sollte man die Patentpolitik von Laendern wie Estland
usw. nicht unterschaetzen. Die Politik geht (z.B. in Gestalt von
TRIPS) massiv dahin, einen effektiven Patentschutz global
durchzusetzen. Und Estland will in die EU, und das wird nur klappen,
wenn dort effektiver Patentschutz moeglich ist. Nur im Fall von
Indien mag man gewisse Zweifel an den Zukunftsperspektiven des Systems
des gewerblichen Rechtsschutzes hegen.
> Wenn man derartige Strukturen auf die USA uebertraegt, wuerden
> derartige "Bremser" einer Neuen Demokratie aufgrund ihrer internen
> Struktur wider besseres Wissen eine Firma wie Lycos dazu
> veranlassen, einen Patentantrag auf Webfloehmaschinen zu stellen,
> obwohl die "Bremser" wissen, dass jemand bereits vor Existenz von
> Lycos eine derartige Maschine programmiert hatte - man kann es ja
> versuchen.
Historisch gesehen ist das Patentsystem ein Kompromiss: Der Erfinder
*veroeffentlicht* seine Erfindung und bekommt *im Gegenzug* vom Staat
ein zeitlich befristetes (!) Monopolrecht. Auch heute noch ist es so,
dass vor allem bei Verfahrenserfindungen manche Erfindungen einfach
von den Unternehmen geheimgehalten und nicht zum Patent angemeldet
werden, um die mit der Patentierung verbundene Offenlegung zu
vermeiden. So gesehen, hat das Patentrecht in den Bereichen, in denen
es erfolgreich angenommen worden ist, sehr viel zum freien Fluss von
Informationen beigetragen.
Groessere Unternehmen wissen das und stecken eine Menge Geld in
Patentabteilungen, in denen u.a. Leute sitzen, die nichts weiter machen,
als die Patentveroeffentlichungen der Konkurrenz zu sichten. Es gibt
kein besseres Mittel, um legal Einblicke in die FuE-Labors der
Konkurrenz zu nehmen. Nicht vergessen: Bei uns (nicht in den USA)
wird eine Patentanmeldung nach 18 Monaten veroeffentlicht
("offengelegt"), egal, ob bereits ein Patent erteilt worden ist oder
nicht. Auch Patentanmeldungen, die nach 18 Monaten noch scheitern,
werden auf diese Weise der Oeffentlichkeit zugaenglich.
Schliesslich: Das LYCOS heute ein Patent auf wasauchimmer bekommt,
heisst noch nicht, dass das Patent auch *rechtsbestaendig* ist. Man
kann es - wenn man gute Argumente hat - immer noch fuer nichtig
erklaeren lassen; die Modalitaeten hierfuer sind in den einzelnen
Staaten unterschiedlich.
Intersssant und m.E. noch unbearbeitet ist allerdings die von
Kristian aufgeworfene Frage, wie "public domain" und "open source" -
Konzepte durch das Patentrecht beeinflusst werden.
Axel H. Horns