[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Re: Paradigmenwechsel...



On Tue, Jun 23, 1998 at 11:15:38AM +0200, Kristian
Koehntopp wrote:

> Inhalte werden nicht mehr auf Servern eines Providers
> publiziert, sondern auf dem eigenen lokalen Server -
> außerhalb des Haushalts existieren nur noch Cache-Copies.
> Artikel und Mails werden nicht mehr über einen Server
> eines Providers publiziert, sondern auf dem lokalen Server
> - der Provider leitet nur noch weiter.


Letztlich geht es, was Öffentlichkeitswirksamkeit angeht,
um zwei Diensttypen: push und pull.  Übersetzt heißt das:
Usenet (incl. Mailingisten) und WWW.

Bei beiden Diensttypen gibt es bei einer Vielzahl
möglicher Inhalteanbieter, wie Du sie visionierst, das
gleiche Problem: Wie finde ich als mit endlichen
Zeitressourcen (endlicher Bandbreite der I/O-Kanäle meines
Hirns) ausgestatteter Verbraucher die Inhalte, die ich
suche?


Bei Push-Diensten sind das die Fragen nach der
Verschlagwortung, dem Feed und dem Killfile: Ein "Kanal"
setzt sich zusammen aus dem technischen Newsfeed und der
Auswahl von Gruppen, die ich über diesen Feed beziehe.

Sicherlich wird es eine Vielzahl von Anbietern derartiger
Feeds geben - einer davon wird (wie schon jetzt) eigener
Diensteanbieter sein, der preislich extrem günstig und
damit zunächst mal eine der ersten Wahlmöglichkeiten ist.

Dieser Push-Diensteanbieter kann durchaus als Ziel für
Kontrollmaßnahmen herhalten - zum Beispiel durch Eingriffe
in die Verbreitung, die einem großen Nutzerkreis den
Zugriff auf gewisse Inhalte (Schlagworte, Newsgroups, ...)
signifikant erschweren und damit (beschränkte
Zeitressourcen!) letztlich unmöglich machen werden.

Als Gegenmaßnahme gegen derartige Einschränkungen böte
sich der Zugriff auf einen in einer anderen Rechtsordnung
angesiedelten Push-Provider an.  Dieser mag seine Dienste
kostenlos anbieten - das wird aber nicht die Regel sein
(ist es heute schon oft genug nicht).  Vor der Nutzung
eines _kostenpflichtigen_ Feeds in einer anderen
Rechtsordnung wird der Kunde jedoch alleine der damit
verknüpften Rechtsunsicherheit wegen zurückschrecken, da
Regreß- und sonstige Ansprüche gegen Gegner in einer
fremden Rechtsordnung signifikant schwerer durchzusetzen
sind als gegen einen Gegner in der eigenen.  Siehe Tonga
und Urheberrechte, siehe Stichwort Kreditkartenabbuchung
nach Fax-Bestellung in die USA.

Kommt zu guter Letzt das Killfile hinzu: Es erhöht und
senkt die Sichtbarkeit von Beiträgen nach Kriterien, die
der Rezipient (und andere - Eltern z.B.) vorgeben.  Kommen
zu den bisher üblichen klassischen Mustern
(Diskussionsfaden, Betreff, Absender, ...) weitergehende
formalisierte Beschreibungen bestimmter Inhalte (aka
Ratings), so können diese für _beide_ Zwecke genutzt
werden.  Sie liegen damit im Interesse des Autors, um so
mehr, wenn sie auf dem Transportweg als Grundlage für eine
bevorzugte Behandlung oder Verwerfung von Inhalten
herhalten müssen.  (XXX- und Kindernet-Feeds als Extreme.)

Fazit: Betrachtet man Push-Dienstleistungen nur für sich,
ist durch eine Reglementierung der Feeder eine
signifikante Einschränkung der Verbreitung unerwünschter
Inhalte möglich.


Kommen wir zum zweiten Teil, Pull-Dienstleistungen, aka
WWW.  Hiervon werden gleichzeitig die meisten alternativen
Zugriffs- und Auswahlpfade zu Push-Diensten erfaßt.

Entscheidend wird hier nicht die Bandbreite vom Anbieter
zum Backbone oder der Standort des Servers sein, sondern
die Bandbreite der Anbindung zum Informations-Backbone,
aka Sichtbarkeit in Suchmaschinen und Links.

Wir müssen davon ausgehen, daß der Urheber einer
Link-Liste auch für den von ihm verlinkten Inhalt haftbar
ist, wenn sein Link wesentlich zur Verbreitung dieses
Inhalts beiträgt.  Das ist das saubere Abbild der Haftung
des Hosting-Providers auf die Haftung des
Awareness-Providers.  Neu ist dieses Konzept dem
Jugenschutz übrigens nicht - man denke an das Werbeverbot
für jugendgefährdende Schriften.

Natürlich greifen derartige Haftungsbestimmungen bei
Suchmaschinen (noch) nicht.  Lycos (oder war's yahoo?)
zeigt uns jedoch einen Weg, wie diese Awareness-Provider
im großen Stil genutzt werden können, um traditionelle
Jugendschutzmuster durchzusetzen.  Es wäre beispielsweise
denkbar, daß der Output einer Suchmaschine nicht nur von
der Sucheingabe des Nutzers abhängt, sondern auch von
einem Selbst- oder Fremdrating des betroffenen Inhalts.
Dieses Rating könnte mit von der Software des Nutzers
übermittelten Preferences abgeglichen werden, das Ergebnis
wäre entsprechend "jugendfrei".  Denkt man diesen Weg zu
Ende und unterstellt man eine Verpflichtung für
Suchmaschinen, derartige Ratings einzubeziehen, so könnten
sich gerade die Suchmaschinen als Einfallstor zu einem
freiwiligen Zwangsrating im Netz erweisen.  (Ich rede
dabei nicht von einem Simpel-Rating wie rsaci.)

Derartige Ratings können (siehe oben unter Killfile) in
beide Richtungen genutzt werden: Sie können Sichtbarkeit
erhöhen und auch senken.  Geht man davon aus, daß ein
"korrektes" Rating die Sichtbarkeit für die intendierte
Zielgruppe eines Inhalts erhöht, so liegt es im Interesse
des Urhebers; er wird es von sich aus vornehmen.

Zum Ausweichen in andere Rechtsordnungen ist zu sagen, daß
Suchmaschinen teuer sind und irgendwovon bezahlt werden
müssen.  Ob der finanzstarke Werbekunde wohl wirklich den
Vertragspartner in Eritrea akzeptiert?  Und ob
Digital/Compaq es wirklich für gute Image-Werbung hält,
einen Rating-freien Suchdienst von Ruanda aus zur
Verfügung zu stellen, wenn alle anderen mit Rating-Auswahl
als Mehrwert werben?


In der Konsequenz heißt das, daß die _Veröffentlichung_
von sogenanntem Schund und Schmutz in Zukunft vielleicht
kein großes Problem ist, und daß an dieser Stelle die
klassischen Maßnahmen tatsächlich daneben gehen. Das
_Auffinden_ dieser Inhalte wird jedoch nur mehr in einem
kontrollierten Rahmen möglich sein.  Nicht der Urheber ist
der Angriffspunkt staatlicher Kontrolle, sondern die
Wahrnehmung des Inhalts beim Rezipienten.

Womit ich - schließlich und endlich - Kristians
Eingangsthese zustimmen muß: Das, was wir bisher an
juristischen Unannehmlichkeiten haben, ist tatsächlich nur
der Anfang.  Anstelle der technischen
Infrastruktur-Provider werden zusehends die
Awareness-Provider ins Zentrum von Kontrollbestrebungen
rücken.  Sie bilden einen viel effektiveren und (der
beschränkten Bandbreite des Verbrauchers wegen) auch
überschaubareren Angriffspunkt.


Die Betrachtung von Usenet- und Web-Seiten-Spam als
weitere (möglicherweise enorm wirksame)
Angriffsmöglichkeit auf die Awareness-Infrastruktur zur
Erzwingung eines Ratings der "legitimen" Inhalte sei im
übrigen dem Leser zur Übung überlassen.  Stichworte
alt.religion.scientology, <meta keywords="sex xxx adult">.


Grüße aus Luxembourg,


tlr