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Re: Dem Internet ist es egal, wie man es speichert



Wau Holland wrote:
> Holger:
> >
> >> (...)
> >> >bezahlen. Ferner kann kein Anspruch auf ein bestimmtes Informationsmedium
> >>
> >> Wenn die historische Neuheit Universalmedium auftaucht, doch :-)
> >
> >Dieses "Wenn" ist ein "If", IMHO. Zwar werden wir in wenigen Jahren Speicher-
> >kapazitaeten haben, um ein ganzes Leben eines Menschen komplett in
> >MPEG aufzuzeichnen (A.C. Clarke spricht von 1E15 Bits in "3001"), aber
> 
> Ich gebe jedoch zu bedenken, dass das Leben, gelebt vor der
> Kamera bei Betrachtung des Films, der so entsteht, oede ist.
> Kurz: Zeit. Filter. Gewichtung.

Clarification nach nochmaligem Lesen des Textes: nicht MPEG, sondern quasi
Full-Backup mit allem wesentlichen Wissen, Look & Feel, etwa das, was bei
StarTrek im Musterpuffer landet. Wird physikalisch natuerlich eine Kopie sein,
weil nicht jeder Elektronenspin korrekt gedreht ist, aber zumindest die
Relation Petabyte (Clarke benennt auch einen Wissenschaftler, der nur 1E13
dafuer veranschlagt, Name vergessen) ist ueberlegenswuerdig.

[...Probleme mit Datenformaten...]
> Ich weiss.
> Prof. Voelz hat Tonaufzeichnungen des Reichstags und kann sie nicht abspielen.
> Das ist eine Schande.  Aber relativ gesehen nur eine kleine Schande.
> 
> Es geht um etwas anderes:
> den Versuch, Kultur in Bitform zu definieren.
> Erfassen, um zu erfassen.
> Wir haben heute Faszreifen fuer Weltkulturen.
> 
[...]
> Die Enzyklopaedie von Diderot und dAlembert wurde
> ausgeschrieben und Geld gesammelt.
> Das Ding hat in der Erstellung mehr gekostet
> als gedacht und laenger gebraucht als geplant.
> Aber irgendwann war es fertig.
> Und hat die Welt veraendert.
> Bereits bei der Planung und durch die Planung.

Die Frage ist der Unterschied zwischen Information und Wissen. Was
gehoert in eine Enzyklopaedie der heutigen Kultur? Da beschreibt
ein SF-Autor, dass sich ein paar K (oder sogar M) Leute auf einen 
Planeten namens Terminus, am anderen Ende der Galaxis, zurueckziehen
wollen, um dort die "Encyclopaedia Galactica" zu verfassen. Mein G*tt,
wir managen als Menschheit schon allein nicht mehr die Trennung
von Spreu und Weizen im sichtbaren elektronischen Drei-We-Teil eines
mittelgrossen Planetens, und da ist die Ueberlegung, eine Wissenssammlung
ueber die Kultur einer Galaxis zu schreiben. Natuerlich wissen wir, dass
es in diesem literarischen Werk um ganz was anderes geht, aber jedem
halbwegs mitdenkenden Menschen sollte diese Problematik doch irgendwie
auffallen (wenn auch vielleicht nicht dem Kaiser von Trantor).

Wir koennen nicht aus unserer heutigen Sicht entscheiden, was in der
Zukunft Wissen oder Muell sein wird. Vielleicht verzapfe ich in 20 Jahren
eine Diss zum dann historischen Thema "Das Junkmail-Wesen in den neunziger
Jahren des letzten Jahrhunderts" und brauche dann ein umfassende Sammlung
von quellen, Zitaten und Kommentaren. Also Leute, drueckt bei einem
Subject "Make Money Fast" nicht sofort auf den Delete-Knopf, sondern
speichert das sauber ab; ich komme moeglicherweise in 20 Jahren auf
euch zurueck und befrage euch nach euren damaligen Empfindungen.

Jeder Historiker hat eine solide Sammlung von nichtdruckbaren Fluechen,
die er dann konsultiert, wenn er feststellt, was in dem betrachteten
Zeitalter alles an Information unwiederbringlich weggeworfen wurde. 
Museen sammeln zwar jetzt auch zeitgenoessichen Abfall, aber sagt nicht
vielleicht eine unlaengst von mir weggeworfene Tupperware-Dose meinem
(if at all) zukuenftigen Biographen auch etwas ueber mich wie einem
van Gogh-Historiker ein Bild mit gelben Blumen (die Information, ob er
das wirklich gemalt hat, ist verschuettet und vermutlich verloren, und
die Echtheitsfrage ist wie bei vielen Geschichtsforschungsproblemen nur
noch spekulatives Bohren mit der Nebelstange).

Wir muessen also eigentlich alles speichern, was uns irgendwie ueber einen
Informationskanal erreicht, und koennen vielleicht noch Redundanz eliminieren,
aber sollten uns vor Irrelevanz-Reduktion hueten. Oder ist selbst Redundanz
eine Information. Es braucht ja eigentlich nur einer in Deutschland sagen,
dass "Kohl weg muss", aber wenn es viele sagen, wird es ein Waehlertrend.
Also speichern wir Information mit Crossreferences, wer wann wie in welchem
Kontext zu wem was gesagt hat, mit inversem Link vom Zuhoerer? Und das ist
nur der verbale Teil der Kommunikation (Assoziation: "Vier-Ohren-Modell").
Das WWW mit im Mittel vielleicht 5 Links per Seite (3.14*Daumen-Schaetzung)
ist laecherlich. Ich bin ueber weniger als 10 Levels of Indirection mit jedem
Menschen der Welt bekannt (war das Spektrum der Wissenschaft, oder die Zeit, 
wo ich das unlaengst gelesen habe?).

>  Wenn ich vom Terabyte bei Aldi schreibe und
> zum Petabyte beim CCC gebruetet wird,
> dann steht dahinter eine glasklare und knallharte Einsicht:
> 
> das Wissen der Welt waechst weit langsamer als die
> Speichertechnik. Das ist ein binaerer Wende-Punkt.

s.o. Was gehoert in eine Enzyklopaedie? Welches Buch gehoert in eine
Bibliothek? Jedes? Was konstituiert den Begriff Buch? Fester Einband?
Also gehoeren Zeitungen und Zeitschriften erst dann dahin, wenn sie
vom Buchbinder zusammengeklebt wurden? Oder ist die Restriktion ein
Ausdruck der Datenhaltung in Regalen? Warum gibt's in meiner Uni-Bibliothek
nicht die Blitz-Illu? Zensur? Speicherplatzprobleme? Kein Wissen, nur 
Information, oder nur farbenfrohes Rauschen (d.h. bereits bandbreiten-
begrenzt)?

> Frank sagt dazu sinngemaess, wir haben einen Riss in
> der Geschichte  etwa um das das Jahr 1995.
> Ab da ist tendenziell "alles" im Netz.

Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel. Sofort lesen.

[...]
> Verknappt und falsch gefragt heisst die Angst:
> "Wollt ihr die totale Speicherung? - Nein".
> 
> Zu der Angst vor Trockenlegung des Feuchtbiotops
> durch staatliche Stellen kommt die Angst vor
> Ueberschwemmungen.

Das Netz als Manifestation einer globalen Kakophonie von
irrelevanten Inhalten (Silicon Snake Oil). Borges und Stoll
schreiben es unterschiedlich, meinen aber dasselbe. Redundanz?
Wen von beiden speichern wir?

> (...Holger, ich liebe Deine Betrachtungen, einfach anregend...)
Ball direkt zurueckgeworfen, freie Diskussion macht Spass; OT: vielleicht
sollten wir mal gemeinsam irgendwo in RL ein Glas Hopfenbluetentee antesten...

> Es geht nicht darum, Daten zu konservieren, sondern Inhalte.
> Konservation und Konversation wachsen zusammen,
> bleiben aber zwei Dinge.
> Diese ML als Webarchiv ist ein Beispiel.

Betrachten wir mal die Situation mal von der anderen Richtung aus,
nicht zusammenwachsen, sondern Reduktion auf das wesentliche.

Solange wir nicht tatsaechlich das Universum als Datenspeicher haben,
wird es immer eine Trennlinie zwischen Daten und Inhalten bzw. Information
und Wissen geben. Man schaetzt die Zahl der Atome im Universum auf 1E80
(+/- ein paar popelige Zehnerpotenzen) und eine moegliche Zahl von
Paralleluniversen, d.h. der Zustandsraum, wie sich das Universum im
naechsten Zeitraum weiterentwickeln kann, damit auf 1E80! (Das Ausrufe-
zeichen ist die Fakultaet). Das ist eine unvorstellbare Zahl, es reicht,
sich zu ueberlegen, dass es ein Universum geben mag, welches exakt so aussieht
wie unseres, und wo auch gerade ein H.V. hier diesen Text verfasst, aber in
dem in irgendeiner Sonne im Andromedanebel nicht vier bestimmte Protonen
zu einem Alphateilchen fusionieren. Noch mehr, es sind beliebig viele 
solcher aehnlicher Folgezustaende vorstellbar. Selbst wenn man hier sich
auf unseren Lebensraum beschraenkt und Atome in Sonnen andernorts ignoriert,
d.h. Information filtert, es fallen nur ein paar 10 Nullen bei obiger Zahl
weg. Selbst wenn Du die Menschheit auf Dich allein reduzierst: nur knapp
10 Nullen weniger. Babels Bibliothek wird nicht dadurch uebersichtlicher,
dass man sie halb abfackelt. Erst wenn es nicht mehr zu jedem Nonsense-Text
einen hinreichend aehnlichen Backup gibt, gibt es ein Problem. Und selbst dann
fehlt uns immer noch die Unterscheidung zwischen nonsense und non-nonsense.
Aber niemand kann sagen, wo dieser Breakeven-Point liegt. Von der anderen
Seite auf einen solchen Point gesehen: wir verlieren bereits jetzt in jeder
Zeiteinheit soviel Information allein dadurch, dass niemand da ist, um es
zu konservieren (das Geraeusch des umstuerzenden Baums im Wald ohne Zuhoerer
faellt direkt ein), so dass Tiplers Omegapunkt bestenfalls noch Halbwissen
haben duerfte.

> Es war Aerger, der mich zu dieser Ueberlegung
> brachte: Aerger, dass ich ein paar Jahrhunderte
> spaeter lebe als Diderot und dAlembert, aber nur
> einen qualitativ schlechten Offsetdruck von den
> Kupferstichen habe. Das ist ein gigantischer
> Informationsverlust durch einen Fehler bei der
> Formatkonvertierung.

Nicht nur.

(...)
> >IOW: ich habe bislang nur Theorien/Utopien/Dystopien von SF-Autoren, wie das
> >Informationszeitalter aussehen wird, aber ich bezweifle, dass es die
> >Grand Unification aller Medien auf digitalem Niveau sein wird.
> 
> If "binaer" statt "digital" then ACK else NACK.
> Zum Digitalzeitalter gehoert mehr als Neumann.
> Sofort fallen mir Morse und Shannon ein.
> 
> Merksatz:
> Wir leben in der Bitzeit, nicht in der Digitalzeit.

Die Zahlenbasis ist fuer das Wesen des Digitalen unwichtig. BTW: wenn
wir nur 4 Finger an jeder Hand haetten, haetten wir vermutlich jetzt ein
"Digital"-Zeitalter, und wuerden Office-11 benutzen. Aufloesung dieser
n-stufigen Assoziation am Ende des Artikels. Als Hilfe noch der Hinweis
"omagic", kaum eine Chance zur Loesung fuer Leute juenger als 30-35. Na Wau,
hast Du es ohne Nachsehen unten entschluesselt?

Digital, im Gegensatz zum analogen, kontinuierlichen 
quantisiert, diskretisiert, filtert (naemlich bestimmte Frequenzen im Spektrum), 
fuegt Falschaussagen hinzu (Quantisierungsrauschen, Gibbs' Phaenomen)
und erzeugt so ein unvollstaendiges Abbild der Wirklichkeit, wenn man seine
eigenen Sinneswahrnehmung als fuer einen selbst vollstaendige Wahrnehmung
der Welt ansieht. Alle anderen Informationskanaele, auch und gerade
die eigenen Sinnesorgane, filtern auch, z.T. noch wesentlich extremer,
aber dem Digitalen, vertreten jetzt durch das binaere Bit, haftet die
Illusion der Genauigkeit, Naturtreue, Wirklichkeit an. Das ist nur eine
Wahnvorstellung.

> Nur wer den Satz akzeptiert, mit dem rede ich ueber Digitalzeit.
> Achtung: PLONK-Ansage aufgrund Glaube an eine Teilwahrheit.

Oeffentlichen Plonken in MLs ist allgemein verpoent.

> Derzeit ist "es", das Info-Age vom Datentyp binary.
> binary ist eine Teilmenge von digital.

Ebend.

[...]
> Wir kommen zum "es".
> 
> Die Quallitaet der Internet:  es ist das das erste Medium,
> dem es egal ist, wo und wie man es speichert. Es gibt

Kein Widerspruch. Aber wer definiert das "es", was da eingetaped, gedost,
geburnt wird?




> >Stephen Jay Gould zieht Evolution als Fortschrittsprozess in Zweifel.
[...]
> Gewiss.
> Aber Du stimmst wohl auf folgendem zu:
> Struktur hat Ursachen. Die Bauart "Rueckenmark mit Hirnkasterl"
> kann evolutionaer Buecher ueber sich selbst schreiben. Insofern
> ist es auch mit Vorstufen der Schriften (Reden, ML usw) moeglich,
> klare Gedanken zu formulieren und unklare zu zerlegen.
> 
> Genau deshalb frage ich mich ja auch, warum sich die Evolution so
> entwickelte, wie sie sich entwickelte und warum hier keine kleinen
> glibbrigen gruenen allwissenden Puddingmonster durch die Gegend
> wabbeln.

Ich habe mich auch schon mal gefragt, ob es moeglich gewesen waere, dass 
sich die Evolution auf ein Lebewesen mit einem starren, unflexiblen Knochen-
skelett und festen Koerpermembranen hin entwickelt haette. Ich werde schon
allein blassgruen bei der Vorstellung von Sex bei solchen "Festkoerpern",
statt, wie bei uns ueblich, sich einfach und elegant mit seiner Partnerin 
zum Austausch von Koerperfluessigkeiten zu verschmelzen, bis sie eine wohlig 
hellblaue orgiastische Farbe annimmt... Ich glaube, das ist ziemlich unwahr-
scheinlich, aber ich denke wohl zu sehr anthro^H^H^H^H^H^Hglibbero-pozentrisch.

Bajoraner mit gebrochenem Nasenbein als Alienrasse sind einfach zu einfallslos.

> ...router crashed...seems to have found an interesting address to fail...
> MAE-West uptime is 1 week, 3 days, 19 hours, 29 minutes // System
> restarted by bus error at PC 0x209678, address 0xDEADBEEF at 16:08:49
> GMT Thu Jun 11 1998 /// Something left by the IOS engineers perhaps?

"deadbeef" ist sehr beliebt als alternativer Nullpointer.

Holger


Aufloesung: Mit 4 Fingern an einer Hand wuerden wir vermutlich nicht das
Dezimalsystem, sondern das Oktalsystem zum rechnen nehmen, und so mit
Computern wesentlich besser zurechtkommen. Die PDP-11 von Digital Equipment 
(->"Digitalzeitalter") ist auf der Basis der Zahl 8 aufgebaut (8 generelle
Register, 2x8 bit Wortbreite, Befehlssatz sehr lesbar und symmetrisch in 
Dreiergruppen organisiert). Dann haetten DEC-Rechner vor ca. 20 Jahren einen
evolutionaeren Vorteil gegenueber Intel gehabt (kennt jemand noch den 
Heath-11?), und M$ haette sein "Word-11" in 18-, spaeter 22bit-Adressraum
untergebracht. "omagic" ist 0407 (oktal) und sowohl das Kennbyte fuer ein
Unix a.out-Format, als auch der Code fuer eine PDP-11-Jump-Instruktion, mit
der die PDP an der Adresse 0 des geladenen Programms zum eigentlichen
Programmstart verzweigt.

-- 
         Dr.-Ing. Holger Veit             | INTERNET: Holger.Veit"at"gmd.de
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