[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Balkan, China und Demokratie



-----BEGIN PGP SIGNED MESSAGE-----

On Fri, 3 Jul 1998, Rudolf Schreiner wrote:

> wenn Du hier anfaengst, die Geschichte zu verdrehen, juckt's mich in den 
> Fingern. 
> 
> > Beim Kreuzzug geht es darum, den militaerischen Vormarsch eines
> > aggressiven Eroberers zurueckzuwerfen und zu diesem Zweck an das
> > Religions- und Geschichtsbewusstsein der zerstrittenen Europaeer
> > zu appellieren.  
> 
> Bei den Kreuzzuegen ging es in erster Linie darum, ueberfluessige 
> Adelssproesslinge loszuwerden und sich andere Weltengegenden unter 
> den Nagel zu reissen. Die religioesen Sprueche dienten nur der Motivation 
> des Fussvolks.

Ich behaupte nicht, dass die Kreuzzuege tatsaechlich immer aus den hehren
Motiven gefuehrt wurden, durch die sie sich als "Kreuzzuege" definierten. 
Ohne die Motivation waeren sie jedoch nicht zustandegekommen.  Ein Krieg,
der nicht "die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" ist, bricht
zusammen.  Ein diffuser Expansionsdrang in fremde Weltgegenden mag
bestanden haben, und hier hatte er eine Legitimation gefunden:  das
Anliegen aller Europaeer, einen externen Aggressor zurueckzuschlagen. 
 
> Die Tuerken hatten dann  nichts anderes gemacht als alle anderen
> auch, naemlich erobert, was zu erobern war. 

Sicher.  Dennoch waren sie ebenso eine Bedrohung fuer die zerstrittenen
Europaeer, wie auch zuvor die Hunnen und Mongolen.
 
> von den islamischen Reichen. Sie waren damals uns teilweise kulturell 
> weit ueberlegen.

Dass dies gerade zur Zeit der Kreuzzuege und etwas davor z.T. der Fall
war, weiss ich schon.
 
> > Das am staerksten turkisierte Land, Albanien, ist das aermste
> > Europas, 
> 
> Ob daran nicht vielleicht auch die kommunistische Regierung in den 
> letzten Jahrzehnten ein bisschen mitschuldig war?

Hodscha hatte keinen Grund, rueckstaendiger als Tito zu sein.  Dass in
Albanien sich ein besonders archaischer Despotismus durchsetzte, liegt
sicher nicht nur an wenigen Personen sondern an den Ausgangsbedingungen
dieses Landes. 

> Jaja, der Kalte Krieg. Gut und Boese. USA und UdSSR. Linux und Microsoft.
> Ist die Welt vielleicht nicht doch etwas komplizierter?

Fuer die differenzierte Betrachtung muss man sich von solchen Schemen
radikal loesen koennen.  Im wirklichen Leben muss man aber zu "Don't be
soft on Microsoft" zurueckkehren, da die Bedrohung real und nicht durch
Wahrheitssuche aus der Welt zu bringen ist.  Reagans Rhetorik vom "evil
empire" war wissenschaftlicher Unsinn aber im politischen Kontext wahr.
Die deutsche "DDR-Forschung" hat hingegen durch geschickte Verwechslung
von Wissenschaftlichkeit und Wahrheit viel an der Wirklichkeit
vorbeigeforscht. 
    
> > Zur Zeit meines ersten China-Aufenthaltes war in China die hoelzerne Sprache
> > noch weit verbreitet, das Parteichinesisch, bei dem jedes Wort entweder
> > fortschrittlich oder reaktionaer ist.   Inzwischen gibt es das in China
> > kaum noch, dafuer im politkorrekten Amerika und Europa.
> 
> Die Sprache mag sich geaendert haben, die Unterdrueckung gegenueber den 
> Minderheiten nicht. Als ich zuletzt in China war (1991), habe ich das 
> live miterlebt. Pruegel von der Polizei habe ich auch nur in China 
> bezogen, da war sogar der Irak noch besser. Tolle Regierung ist das. 

Warst du da Teil der Unruhen in Ili?

Soweit ich sehe, laeuft die chinesische Politik auf Assimilierung bei
gleichzeitigem besonderen Schutz der Minderheiten hinaus.  Gerade die
Minderheitsangehoerigen muessen nicht um ihre materielle Existenz,
allenfalls um ihre kollektive Identitaet fuerchten.  Auch die religioesen
Kulte werden nicht unterdrueckt sondern eher gefoerdert.  Ueberall in
chinesischen Staeten findet man Uighurenviertel und Angehoerige aller
Minderheiten.  Alles wird durchmischt.  Darauf reagieren viele Leute
genauso wie bei uns:  sie wollen unter sich bleiben und ihre Identitaet
pflegen.  Wenn diese Reaktion sich in Proteste und Demonstrationen
artikuliert, schlaegt die Polizei zu. 

Ich koennte nicht behaupten, dass dieser chinesische Zustand schlechter
ist als der jugoslawische.  Denn die Eskalation der Identitaetssuche
fuehrt zwangslaeufig zu Buergerkrieg und ethnischen Saeuberungen.  Viele
Gebiete koennten eigene Staaten gruenden, aber keines ist und war jemals
ethnisch homogen.  Das kurze Intervall eines ostturkestanischen Staates in
den 40er Jahren war von Voelkermord grossen Stils an Han-Chinesen
gepraegt. 
 
> Ich will nicht in einer Welt mit Linux-Zwang leben, genauso wenig wie ich 
> das Microsoft-Monopol mag. 

Offene Software erzeugt eben gerade keinen Zwang.  Es geht darum, in einer
Welt zu leben, in der die Wahl des Betriebssystems nicht durch
Kompatibilitaetsanforderungen diktiert wird.

> Du hingegen bist ein Anhaenger eines 
> buerokratischen Obrigkeitssystems, dessen Spielregeln am liebsten Du 
> selber machst.  Wenn irgendwelche Stellen definieren, was politisch 
> korrekt ist und was nicht, wer "wahlwuerdig" ist und wer nicht (Wir wollen 
> doch  keine Ochlokratie!), welche Betriebssysteme "korrekt" sind oder 
> nicht, was  eine historische Tatsache ist und was nicht, dann schrillen 
> bei mir die  Alarmglocken. Das sind die ersten Schritte zur Diktatur. 

Bitte belege den letzten Satz etwas naeher.  Viele historische Erfahrungen
zeigen, dass eine handlungsunfaehige Ochlokratie das Vorstadium zur
Diktatur ist.  Mir geht es hingegen darum, die Dinge ueber oeffentlich
kontrollierte Regeln in den Griff zu bekommen und allen (nicht nur einer
irgendwie privilegierten Obrigkeit) gleiche Moeglichkeiten der rationalen
Einflussnahme zu schaffen. 

- --
Hartmut Pilch <phm@a2e.de>
a2e Ostasien-Sprachendienste Pilch, Wang & Co 
http://www.a2e.de/oas/, Tel +49891278960-8

-----BEGIN PGP SIGNATURE-----
Version: 2.6.3i
Charset: noconv

iQB1AwUBNZyVPnBEKpgrry7JAQHbeAL+Kd7oNW336I8n9RF3lBrXKhB8SWIx660W
MsTrMCs2lwk3ssHLFSd6Z7k23E02guwYcjn7sJMGXzhPX8EI3tnXaBYKp4R5Ff3j
q2c+5Zqyr5W+G8qPQfaSvLpOteeYINXa
=A8dK
-----END PGP SIGNATURE-----