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Re: Dem Internet ist es egal, wie man es speichert



Holger Veit <Holger.Veit@gmd.de>:

[ Smileys ]
> Es gibt seit mehreren tausend Jahren Schrift und Schriftwerke (selbst wenn
> breite Alphabetisierung der Bevoelkerung noch nicht mal 200 Jahre alt ist),
> und ich finde in keinem Kant, oder Brecht, oder Konsalik, oder Kishon
> solche Emotionsverstaerker.

Nach Jan Tschichold sollte selbst auf Hervorhebungen durch
Kursivschrift möglichst verzichtet werden, gute Schriftsteller hätten
diese nicht nötig: Die geeignete Formulierung soll ohne derartige
Hilfmittel für sich selbst sprechen. _Diese_ Krücke ist -- anders als
die neuartigen ASCII-Smileys -- weithin akzeptiert. (Und gegen
Satzzeichen wie "?", "!" hat wohl erst recht niemand etwas.)

Die Unterschiede zwischen der Smiley-Thematik und der Kursivdruck-
Thematik sind nur graduell, das zugrundeliegende Problem ist das
gleiche: Die Schrift soll einerseits benutzt werden, um gesprochene
oder zumindest potentiell gesprochene Sprache in einem anderen Medium
festzuhalten; andererseits fehlen aber der Schrift etliche
Ausdrucksmittel, die beim Sprechen zur Verfügung stehen (Betonung,
Tonfall, Geschwindigkeit, Tonhöhe ...). Also schafft man sich Ersatz:
Sobald man mit Fragezeichen, Ausrufezeichen, Gedankenstrichen und
Anführungszeichen einen gewissen Grundvorrat an Werkzeugen hat, ist
die Betonung das, was am meisten vermisst wird; sie wird deshalb
mittels Hervorhebung in der schriftlichen Darstellung gekennzeichnet.
Typographisch korrekt geschieht das durch Verwendung einer Kursiven in
einem Antiqua-Text, unter den Einschränkungen von Usenet und E-Mail
behilft man sich meist mit angedeuteten Unterstreichungen.
   Für die Sorgfalt beim Formulieren, die man bei Zeitungen,
Zeitschriften und besonders bei Büchern im allgemeinen erwartet, fehlt
bei E-Mail und bei Usenet-Beiträgen oft die Zeit; und fast nie gibt
es einen Dritten, der die fertiggestellten Texte vor der Verteilung
noch einmal redigiert und auf etwaige Mehrdeutigkeiten hin abklopft.
   Bei Kommunikation per Brief kostet eine Unklarheit einige Tage
Zeit, einem direkten Gespräch sind vorübergehende Unklarheiten etwas
Normales und sind meist schon nach ein paar Sekunden aufgeklärt; das
Netz liegt irgendwo dazwischen.
   In fast jeder Hinsicht gilt also, dass E-Mail und Usenet dichter an
die gesprochene Sprache heranrücken als die Papiermedien (es geht also
gewissermaßen "back to the roots"). Damit ist es auch kein Wunder,
dass man in diesen neueren Medien beim Nachahmen der Ausdrucksmittel
der gesprochenen Sprache weitergeht als vorher. Die jeglicher
Formulierkunst entbehrende Silbe "hmmm" lässt sich bei akustischer
Kommunikation durch unterschiedliche Aussprachemöglichkeiten mit
etlichen verschiedenen Bedeutungen einsetzen (und für manche Zwecke
kommt man auch ganz ohne Laute aus), und auch bei vollständigen
gesprochenen Sätzen kann ein gehöriger Teil der Bedeutung im Tonfall
versteckt sein. Sobald solche Äußerungen in Lettern zerlegt werden,
gehen diese Facetten verloren. Manche davon lassen sich mit Emoticons
retten. Emoticons, die auf Verdacht gesetzt werden, können
Missverständnisse vermeiden helfen, denn vielleicht wirkt der nackte
Satz auf den Leser anders, als er auf einen _Hörer_ wirken sollte, den
der Schreiber sich gerade als Ansprechpartner vorstellt. Sicherlich
würde es normalerweise auch möglich sein, durch andere
_Formulierungen_ dem Leser die Intention des Autors klarzumachen. Aber
die Wirkung der geschriebenen Fassung möglichst unvoreingenommen zu
prüfen ist für den Autor gerade dann besonders schwierig, wenn man den
Text nicht erst eine Zeitlang ablagern und dann selbst neu lesen kann.
In Mail und News haben Smileys also durchaus ihren Sinn (bei IRC
und talk erst recht).

Und schließlich kann man das ":-)", das seine Geburt und Verbreitung
Umständen der genannten Art verdanken dürfte, auch ganz einfach als
eine Erweiterung der Möglichkeiten ansehen, die man als Autor bei der
Textgestaltung hat: Man _kann_ seine Texte zwar so schreiben, dass man
ohne Kursivschrift oder andere Hervorhebungen auskommt (und man
_könnte_ auch alle Fragen so formulieren, dass das Fragezeichen als
Hilfsmittel überflüssig wird -- ein einziges Satzzeichen wäre für
viele Zwecke genug); und man _kann_ völlig ohne ":-)", ":-(" und
":-|" auskommen; aber: Eigentlich gibt es dafür keinen zwingenden
Grund. Schreiben ist heuristisches Lösen einer Optimierunsaufgabe;
sofern das Symbol ":-)" den Lesern bekannt ist, ist die Lösungsmenge
ein Stückchen größer.


Natürlich kann man diese Stilmittel auch missbrauchen, um Klarheit
nicht zu fördern, sondern um Aussagen zu vernebeln: Ab und an findet
man im Usenet zum Beispiel Artikel, bei denen einige drastische
Aussagen (Pöbeleien) gleich wieder per ":-)" abgeschwächt werden
sollen; und ganz analog dazu werden manche Artikel mit Unmengen von
"IMHO"s aufgefüllt, die dann Styroporchips gleich dafür sorgen sollen,
dass sich niemand an den scharfen Kanten des eigentlichen Textes
wehtut.

Bodo Möller
<bmoeller@acm.org>

P. S.:  Jemand hat mal vorgeschlagen, in allen Texten sämtliche Ironie
        durch Kursivschrift zu kennzeichnen. Dieser Vorschlag war
        nicht kursiv gedruckt ...

P. P. S.:  Den "Kant" in Holgers Artikel streichen wir wohl lieber,
           denn dessen Eignung als Beispiel für guten Schreibstil ist
           wohl zumindest fragwürdig; wenn Kant bereits von Smileys
           gewusst hätte, vielleicht hätte er dann ja seine Gedanken
           verständlicher ausdrücken können?


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