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Re: Balkan, China und Demokratie



[Selbstorganisation des osmanischen Albanien]

Urspruenglich ging es mir eigentlich nur um die moeglichen
Interpretationen der Metapher vom Kreuzzug.  Meine Spekulationen ueber
den Zusammenhang von heute und einst waren fuer das Thema belanglos.
Ich hatte gar nicht verdient, dass jemand auf der Liste so
kenntnisreich darauf antwortet.

> Offenheit ist fuer Anwender kein Wert an sich. Sie wollen, dass die 
> Aufgabe zu geringen Kosten erledigt wird. Und in den Augen der (ueberaus 
> kurzsichtigen) Anwender fuehrt das MS Monopol zur Kostensenkung: Es gibt 
> z.B. nur noch eine Textverarbeitung, die jeder beherrscht, also gibt es dafuer 
> keine Trainingskosten. Und sie glauben, sie haetten keine 
> Kompatibilitaetsprobleme mehr, weil sie nur MS Software verwenden. 
> Schoene neue Welt!
> Mit Ideologie hast Du dagegen keine Chance, keiner hoert Dir zu. 
> Argumentierst Du hingegen wirtschaftlich und technisch, zeigst also, 
> dass 
> das MS-Zeug teuer ist und in vielen Bereichen nix taugt, dann fangen die 
> Anwender zu denken an. 
 
Auch ich argumentiere gegenueber meinen Kunden nur wirtschaftlich und
technisch.  Damit habe ich schon einige von MS-Loesungen abgebracht.
Mit "Ideologie" haette ich nicht nur keine Chance, ich wuerde sogar
die bestehenden Chancen zerstoeren.

Genau das ist ja das Problem:  volkswirtschaftliche Werte sind
betriebswirtschaftliche Unwerte, solange wir die Spielregeln nicht
aendern.

> Umweltschutz rechnet sich. Warum wollen die Fluggesellschaften 
> Flugzeuge mit geringem Benzinverbrauch? Weil die Betriebskosten 
> niedriger 
> sind! Das Problem ist in vielen Faellen, dass bei der Berechnung von 
> Kosten wesentliche Anteile nicht beruecksichtigt werden, z.B. 
> Waldsterben oder Gesundheitsschaeden.

Ressourceneinsparen rechnet sich, Umweltschutz nicht, es sei denn
der Gesetzgeber setzt die Regeln entsprechend. 
  
> Es wird also immer noch froehlich gepruegelt? Nur eben da, wo's keiner sieht?

In Shanghai bestimmt nicht, in Liaoning oder Sinkiang vielleicht schon.  
Aber ich habe nichts davon selber erlebt.
  
> In der EU haben sich verschiedene Laender _freiwillig_ 
> zusammengeschlossen. 

Immerhin wurde das meiste ueber die Koepfe der Bevoelkerungen hinweg
beschlossen.  Die Souveraenitaet wird ohne Volksabstimmung aufgegeben,
und wer etwas dagegen sagt, wird schnell in Schubladen gesteckt und
zurechtgewiesen.

> > Sicher auch mit versklavten Han-Chinesen.  In chinesischen
> > Gefaengnissen herrscht Arbeitszwang.  
> 
> Ach so, dann ist die Versklavung der Uiguren auch in Ordnung?

Das habe ich nicht gesagt.  Ich habe nur eine potentiell irrefuehrende
Rhetorik entschaerfen wollen.  "Versklavung" bezieht sich 
auf eine Gefaengnispraxis, die alle gleichermassen trifft, nicht auf
ein Volk.

> Jetzt wende mal diese perverse Logik auf das Dritte Reich des Adolf H. 
> an. 

Ich versuche es einmal:
"Sicher auch mit versklavten Deutschen.  In KZs herrscht Arbeitszwang."

Na und?
Willst du vielleicht Uighuren mit polnischen Zwangsarbeitern vergleichen?
Das waere wiederum irrefuehrende Rhetorik.

> Was ist die Ursache und was ist die Wirkung? Ein unterdruecktes Volk 
> unter hohem Assimilationsdruck besinnt sich fast immer sehr stark 
> auf die 
> eigenen Werte und die eigene Religion. 

Moscheen sind auch in islamischen Laendern Unruheherde.
Assimilationsdruck einer saekularen Kultur besteht ueberall.

> Warst Du in Sinkiang? Ich schon, zweimal.

Meine Informationen kommen aus zweiter Hand, von Uighuren, Han-Chinesen
und auch von jemandem in Muenchen, der dich bestimmt sehr gerne 
kennenlernen wuerde.
 
> > Ich sehe keinen wesentlichen Unterschied zu einer Aussage wie
> > "Es werden in Deutschland immer mehr Auslaender angesiedelt."
> 
> Von wem? Von der EU-Zentralregierung? Um den Bevoelkerungsanteil der 
> aufmuepfigen Deutschen zu senken, um die Deutschen dadurch besser zu 
> kontrollieren? Ach, darum sitzen in den deutschen Behoerden ueberall 
> jetzt Portugiesen?

Ich weiss von keinem Siedlungsprogramm der chinesischen Zentralregierung.
Der Anteil der Han-Chinesen ist schon lange sehr hoch und verstaerkt
sich auch ohne Programm.   Das einzige was mir bekannt ist, ist, dass
viele Leute zur "Entwicklungshilfe" dorthin strafversetzt werden.
Von diesen kommen allerdings wiederum sehr viele spaeter in ihre Heimat
zurueck.  Besonders in der tibetischen Hoehenluft haelt kaum einer aus.
Xinjiang ist einladender.

> Da die EU China  so aehnlich ist: Wie kann dann eigentlich der Kohl 
> Bundeskanzler sein? Wenn er zum Befehlsempfang nach Bruessel fliegt, dann 
> versteht er ja nix, kann er doch nur Deutsch!

Ueber Kohl werden ja auch deshalb viele Witze gemacht.
Und bei VW steht in der Konzernzeitung: "Wer bei VW mehr als 4000 DM
monatlich verdient, muss die Konzernsprache Englisch perfekt
beherrschen".
 
> ...weil diese Barbaren halt ein bisschen bloede sind?

Nein, weil die Sprachbarriere beruecksichtigt wird.
  
> 1912 erklaert der Dalai Lama Tibet fuer unabhaengig. Und bis 1950 blieb 
> Tibet auch unabhaengig, bis es im Oktober 1950 von der chinesischen Armee 
> erobert wurde.

Die Republik China (1911-49) konnte ihre theoretisch international und
auch vom Dalai Lama anerkannte Hoheit ueber Tibet wegen innerer
Buergerkriegszustaende nicht ausueben.  Chiang Kai-shek wird sogar
zugute gehalten, dass er die tibetische Oberschicht (wie auch viele
chinesische lokale Militaermachthaber) durch Bestechungsgelder bei
Laune gehalten haben soll, um nicht den theoretischen Anspruch zu
verlieren.

> Zu mir sagte mal ein afrikanischer Student, der in Nanking studiert 
> hatte, "die Chinesen seien die schlimmsten Rassisten, die er je erlebt 
> habe". 

Ich habe selber in Peking eine Diskussion erlebt, wo ein Afrikaner,
mit dem ich mich ganz gut unterhalten hatte, auf der Heimfahrt im Taxi
ueber den Fahrpreis feilschte und sofort den Taxifahrer des "Rassismus"
bezichtigte, wogegen dieser sich sehr diplomatisch zur Wehr setzte,
bis ich ihm den Fahrpreis zahlte.  Schwarze sind es zu sehr gewohnt,
bei Europaeern und Amerikanern mithilfe der "Rassismus"-Keule mit allem
durchkommen zu koennen.  Und sie greifen zu voreilig zu dieser Keule.
Es fehlt die bei Chinesen weit verbreitete Geduld und Diplomatie.

Aber es stimmt, dass viele Chinesen allgemein einen schlechten Eindruck
von Schwarzen haben und mangels antirassistischer Indoktrinierung auch
oft weniger gut in der Lage sind, den einzelnen Menschen losgeloest von
solchen Vorurteilen zu wuerdigen.

> Du tust Dein Bestes, um diese Meinung zu bestaetigen. Und Du 
> machst  Dir diesen Rassismus sogar zueigen, weil Du die chinesischen 
> Vorurteile zitierst, um deren Politik zu rechtfertigen. 

Nicht um deren Politik zu rechtfertigen.  Sondern um herauszufinden,
was du zuvor mit "behandelt wie der letzte Dreck" gemeint haben
koenntest.  Ich mache mir auch keinen Rassismus zu eigen sondern
bleibe lediglich offen fuer die Phaenomene, die nun eben mal so sind.
Wenn man feststellt, dass bestimmte Bevoelkerungsgruppen sich haeufig
in einer bestimmten Weise benehmen, ist man einfach Realist.  Erst
wenn darueber die Wuerdigung des einzelnen Menschen vergisst und die
kollektiven Eigenschaften fuer allgemeingueltig oder gar biologisch
vorgegeben haelt, wird man Rassist.

> > aber immerhin als rueckstaendig,
> > schmutzig und blind-aberglaeubisch. 
> 
> Und deswegen muss man sie "zivilisieren"?
> Eine solche Meinung war die Grundlage fuer den Kolonialismus.

Ich wollte nur berichten, welchen Eindruck die Tibeter als Kollektiv
auf die Han-Chineesen machen und welche Reibungen daraus entstehen.
Die chinesischen Behoerden wollen zwar die Herrschaft ueber Tibet,
aber nicht die Ideologie des Kolonialismus und bekaempfen daher
den Ueberlegenheitsduenkel der chinesischen Bevoelkerung.

> Voelker wollen unabhaengig sein, damit ihre Fuehrer Spesen verprassen 
> koennen?

Die Eitelkeit der potentiellen Fuehrer ist ein wesentliches Element.
Die meisten antikolonialen "Befreiungskaempfe" Afrikas und Asiens
haben ja nicht zur Befreiung, sondern zu einer Herrschaft
einheimischer Potentaten gefuehrt, die ihre Diktatur wiederum mit der
Unreife ihres Volkes begruendeten.  Leider nicht ganz zu Unrecht.
Aber wozu dann die Entkolonialisierung?  Zumal das vorher oft
bluehende Laender gewesen waren.

> > Da sich bisher keine Buergerkriegsstimmung provozieren liess, 
> 
> Mit den beruehmten Messern fuehrt sich schlecht Buergerkrieg gegen die 
> AK47 der Chinesen. Die Uiguren wissen, dass sie kaum eine Chance haetten. 
Es ging um Buergerkriegsstimmung.  Wenn man die erst einmal erzeugt hat,
nuetzen AK47 auch nicht mehr sehr viel.

> Wer definiert denn, was "aufgrund seiner Faehigkeiten Zugang zu 
> angemessenem Einfluss" ist?  Das ist doch der Knackpunkt!

Die Frage "wer entscheidet?" ist falsch.  Richtig ist: "wie,
durch welche Institutionen und Regeln, entscheidet man?"
 
> > Doch.  Heute sind wir der Ochlokratie naeher als 1949.  
> 
> Es gibt in gewissen Gegenden Deutschlands durchaus Demokratiedefizite. 
> Warum? Weil diese Gegenden sehr lange unter einer Zwangsherrschaft leben.

Es geht mir nicht nur um Demokratiedefizite.  Und auch die gibt es
nicht nur im Osten.  Siehe z.B. Souveraenitaetsabtritt an EU.  Die
politische Klasse (Presse, Politiker) ist sich einig, dass Volk nicht
qualifiziert ist, dass volkstuemliche Rhetorik als
"Stammtischgeschwaetz" einhellig bekaempft werden muss, dass gewisse
Parteien rechts und links auch mit unfairen Mitteln und Luegen bekaempft
werden muessen usw.  Vielleicht aus gutem Grund.  

> Das Volk ist aber bei weitem nicht so bloed, wie die Politiker glauben.
> Ein Teil des Volkes laesst sich verfuehren, aber die allermeisten 
> waehlen immer noch halbwegs vernuenftig. 

Das behaupte ich auch immer.

Aber das System ist zumindest so, dass es sich auszahlt, vom DAU
auszugehen.

Schroeder hatte eine vielsagende Formulierung parat, als die Gruenen
in einer Frage kuerzlich dem Volk einmal reinen Wein einschenkten: 
"sich aus der politischen Wirklichkeit verabschieden".

> Einen Kaiser kannst Du viel leichter beeinflussen als ein ganzes Volk.

ACK
 
> Meinungsfreiheit ist Teil der Menschenwuerde. Und wer fordert absolute 
> Meinungsfreiheit? 

Na, doch wohl ziemlich viele auf dieser ML.

> Sie hat natuerlich ihre Grenzen, wenn die Wuerde des 
> Menschen verletzt wird. Manche Leute haben aber eine etwas weitgehende 
> Definition von Menschenwuerde. Sie verlangen z.B. ihrerseits 
> Glaubensfreiheit, wenn aber ein anderer 'was gegen ihre Religion sagt, 
> dann schreien sie nach dem Richter. 

Die angegriffenen Gruppen nutzen die vorhandenen Gesetze aus.  Da
kommt im Einzelfall viel albernes heraus.  Bei Tabus muss man die
Grenzen haeufig der Zeit anpassen, aber die Gesetze kommen so schnell
nicht mit.

> Eine wichtige Frage ist auch, wie man 
> gegen Verletzungen der Menschenwuerde vorgeht. Einfach verbieten? Soll 
> ich zur Polizei gehen und Dich wegen Deiner rassistischen Aeusserungen 
> ueber die Uiguren anzeigen? (Wenn Du aehnliches ueber Juden schreiben 
> wuerdest, koenntest Du Probleme bekommen, das ist Dir doch klar? Zumal es
> hierzulande schon reicht, wenn Du zitierst und Dich  nicht ausreichend 
> distanzierst.) 

Das waere vielleicht moeglich, wuerde aber auch zu albernen Ergebnissen
fuehren.

Auch Juden haben/hatten bestimmte fuer ihr Kollektiv kennzeichnende
Verhaltensweisen, die einen bestimmten Eindruck und bestimmte
Vorurteile erzeugten.  Ich faende es besser, man koennte frei darueber
reden, aber ich sehe ein, dass diesbezuegliche Tabus grundsaetzlich
ihren Sinn haben.  Die Frage ist immer:  Funktioniert es unter den
derzeitigen Umstaenden besser mit oder ohne Freiheit?  Werden mehr
zerstoerende oder mehr aufbauende Kraefte freigesetzt?

Genau diese Frage stellt sich auch bei den Befreiungskaempfen von
Minderheiten und Kolonien.

> ps: Auf Deinen Vergleich zwischen Russland und China gehe ich nicht ein. 
> Sonst ufert das hier zu sehr aus.

Wir koennen uns ja mal privat darueber unterhalten.  Vielleicht auch
zusammen mit dem erwaehnten Sinkiangkenner.

--
Hartmut Pilch <phm@a2e.de>
a2e Ostasien-Sprachendienste Pilch, Wang & Co 
http://www.a2e.de/oas/, Tel +49891278960-8