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Re: Dem Internet ist es egal, wie man es speichert



Andreas borchert wrote:
> On Mon, Jul 13, 1998 at 09:26:13AM +0200, Holger Veit wrote:
> > Beim Nachdenken, angeregt durch Wau
> > letzte Woche, ueber das Weltkulturerbe, ist mir dieses klargeworden: gesetzt
> > den Fall, man will jenes obskure Weltkulturerbe sichern, dann muss man es 
> > definieren, und wird auf diese Art und Weise entweder dazu kommen, dass man
> > alles speichert, was irgendwie vor eine Scannerzeile, ein Kameraauge oder ein
> > Mikrophon passt, inklusive des "Drecks", oder man muss filtern und Information
> > in die Kategorien "wertvoll" bzw. "wertlos" einsortieren. Der Aufwand fuer
> > letzteres ist immens; im anderen Falle haben wir moeglicherweise 99.999%
> > redundant gespeicherten Muell (->Bibliothek von Babel).
> 
> Das Problem Bibliothek von Babel vs Sortierung der Informationsflut laesst
> sich meines Erachtens auf eine altbewaehrte Methode loesen: Lasst genau
> das ueberleben, wofuer jetzt jemand bereit ist, es zu sammeln und
> aufzubereiten. In Prinzip ist das auch ein Filter, jedoch ein voellig

Oh, sh*t! Das ist doch genau *das*, was nicht klappt. Mein Beispiel mit
dem Spam vor ein paar Tagen: Heute drueckt jeder die Delete-Taste, in
zwanzig Jahren aergert sich irgendjemand darueber, dass es weg ist und er/sie
eine historische Abhandlung darueber schreiben will/muss. Man mag bei Spam 
darueber trefflich diskutieren, ob es zum Weltkulturerbe gehoert, aber jeder
*Biograph* wird Dir erzaehlen, was ihm ueber sein Subjekt alles fehlt, was
nie gesammelt wurde und jetzt post-mortem verloren ist. Wir koennen *heute*
gar nicht ermessen, was sich aus unserer Zeit fuer die Zukunft
als erhaltenswert herausstellen wird. Nimm als weiteres Beispiel die
Comic- und Pulp-Kultur der 20er und 30er Jahre. Da gibt es zwar immer noch
massenhaft Sammler, aber das Material ist nicht mehr vollstaendig und
wird voraussichtlich in wenigen Jahrzehnten vollkommen zerfallen - Pulp! -
sein.

> dezentraler, da jeder, der Interesse daran hat, dass bestimmte Inhalte
> ueberleben sollen, dies durch seine Aktivitaeten foerdern kann. Nach
> genau der gleichen Methode haben unzaehlige Inhalte Jahrhunderte und
> Jahrtausende ueberdauert, da das, was fuer interessant und wichtig
> gehalten worden ist, immer wieder kopiert und damit erhalten wurde.

Noch mal: was die jeweiligen Zeitgenossen fuer wichtig erachtet haben und
das was wir heute aus jener Zeit stammend als wichtig ansehen, sind ueber-
lappende, aber nicht identische Mengen. Nimm etwa die Bibel: es gibt nur
noch second/third/n-th-Hand-Versionen, die vermutlich mit den Original-
schriften nicht mehr allzuviel gemein haben, weswegen etwa die Qumran-Schriften
so wertvoll sind.

Nimm als weiteres die Praktiken, welche in Orwells 1984 beschrieben wurden,
in dem der jeweilige Machthaber die Geschichte umschreiben liess. Was
wir heute nicht konservieren (und ggf. sogar mit PGP etc. signieren),
ist entweder fuer die Zukunft verloren oder wird beim Kopieren absichtlich
oder unabsichtlich verfaelscht.

> Natuerlich waere es denkbar, die Konvertierung bisherigen
> Weltkulturerbes auf digitale Medien zu foerdern und zu forcieren.
> Jedoch fuerchte ich, dass dies nicht die Qualitaet haette, die ueber
> Eigeninitiative (wenngleich ueber deutlich laengere Zeit) moeglich
> waere.

Ein Sammler wird einen Gegenstand mit aller Liebe ueber eine Generation,
hier vielleicht 50 Jahre, konservieren koennen, danach werden die Kinder
den Gegenstand selbst bewerten und entweder behalten oder wegwerfen. Das
bedeutet auf lange Sicht grundsaetzlich immer einen Verlust.

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