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Re: Einfach nur Ueberforderung?



On  3 Sep 98 at 20:56, Kristian Koehntopp wrote:

> Marit antwortete auf meine Frage quasi spontan, dass es sich
> ihrer Meinung nach um Ueberforderung handelt. "Denke doch einmal an
> Eltern", meinte sie, "die mit dem Verhalten ihrer Kinder
> ueberfordert sind und die dann anfangen zu pruegeln oder sonstwie
> autoritaer-blockierend reagieren." Stimmt das?

Ich meine, das koennte tatsaechlich so sein, obwohl ich eigentlich 
gewisse Vorbehalte gegen allzu metaphorische bildhafte Gleichnisse 
habe. 

> Beobachten wir global eine Flucht von Gesellschaften in die
> Autoritaet als Folge eines Strukturwandels im
> Kommunikationsverhalten und in der technologischen Basis der
> Produktion und Kommunikation? Handelt es sich schlicht um den
> Versuch von Staaten sowie der darin lebenden Individuen, die
> Auseinandersetzung mit diesen Themen durch und mit Gewalt zu
> verzoegern? Oder gibt es einen anderen, tieferliegenden Grund,
> der diese Entwicklung beguenstigt?

Bislang habe ich auch keinen anderen plausiblen Grund gefunden. Viele 
Leute spueren, dass ihr Wissen und ihre Lebenserfahrung rasant 
entwertet werden. Sowas schwaecht das Selbstvertrauen. Bemerkenswert 
ist jedenfalls, dass das Phaenomen more or less zumindest in allen 
westlichen Industrielaendern aufzutreten scheint. Damit entfallen 
alle Erklaerungsversuche, die auf die Besonderheiten der deutschen 
Geschichte abstellen.

Vielleicht - um jetzt doch mal wieder in Gleichnisse abzugleiten - 
verhalten sich manche Gesellschaften auch einfach annaehernd gemaess 
bestimmter linearer Differentialgleichungen: Je groesser die 
Permissivitaet, desto groesser die Rueckstellkraft in Richtung mehr 
Repression und Konformitaetsdruck. Je groesser Repression und 
Konformitaetsdruck, desto groesser die Rueckstellkraft in Richtung 
auf mehr Permissivitaet. Durch die Traegheit der Subjekte 
sind dann Oszillationsphaenomene zwangslaeufig. Geschaetzte 
Periodendauer in der BRD: ca. 50 - 60 Jahre. (1968 - 1998 = 30 
Jahre). Naja, so ganz ernst gemeint ist das natuerlich nicht, aber 
wer weiss, ob was dran ist. Vielleicht erleben wir derzeit das 
Analogon zur Springflut: Nicht nur, dass viele ZeitgenossInnen 
oszillatorisch derzeit gerade einen (Zivilisations-)Ekel gegen die 
permissive Tabubrechergesellschaft im Gefolge der 68er entwickeln 
und sich u.a. nach kuscheliger, Sicherheit und Geborgenheit 
verheissender, aber die Freiheit des offenen Gedankenhimmels 
bewoelkenden "Gemeinschaft" sehnen; hinzu kommt superpositorisch die 
von Kris angesprochene ebenfalls in Richtung auf gesellschaftliche 
Formierungs- und Repressionstendenzen wirkende tiefgreifende 
Modernisierungskrise mit Globalisierung, extremer 
Dauerarbeitslosigkeit und Internet.

Vielleicht ist auch alles ganz anders. Auf jeden Fall aber bleibt das 
beunruhigende Gefuehl, mitten in einen antiliberalen Mahlstrom 
geraten zu sein, aus dem es kein Entrinnen gibt und der mit Mitteln 
der Tagespolitik nicht umzukehren ist. Ich frage mich manchmal, ob 
ich jetzt 30 Jahre warten muss, bis sich die diese Dinge wieder 
eingerenkt haben?!?

Axel