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Re: Wildwuchs vs Normierung in Kommunikationssystemen



> Damit Kommunikation funktionieren kann, muß die Sprache einerseits
> effizient sein; andererseits benötigt sie ein gewisses Maß an
> Redundanz. Im Deutschen sind es "nutzlose Informationen wie
> Singular/Plural, Zeit, Geschlecht" usw., die dem Satz eine klar
> erkennbare Struktur geben. Während man spricht, baut der Hörer eine
> Erwartung darüber auf, wie der Satz weitergehen wird. Für das
> Sprachverstehen kommt es darauf an, den Hörer -- durch Redundanz in
> der Äußerung -- zu lenken und seine Erwartung nicht zu enttäuschen.

Keine Sprache verhindert Redundanz.
Aber es gibt Sprachen wie Lojban, die dem Sprecher freistellen zu waehlen,
wie viel Redundanz er zu brauchen glaubt.
Wildwachsende Sprachen hingegen erlauben es dem Sprecher nicht, bei
noch so viel Redundanz eine komplizierte syntaktische Beziehung
klarzustellen.  Jeder klaerende Zusatz fuehrt in so einer Sprache zu
neuen Ambiguitaeten.  Je aufgeblaehter der Satz, um so mehrdeutiger. 

> In anderen Sprachen sind u.U. ganz andere "nutzlose Informationen"
> erforderlich; aber eine Sprache ohne das richtige Maß an Redundanz
> wäre nur mit Mühe zu verstehen. Das dürfte auch erklären, warum eine
> so wundervolle Sprache wie Lojban niemand spricht.

Es gibt schon Lojban-Sprecher.  Ich gehoere nicht dazu.  Der Grund ist
recht einfach:  die Sprache verwendet keinerlei Europaeern bereits
bekannten Wortschatz und erfordert somit trotz aller Einfachheit einen
betraechtlichen Lernaufwand (anders als Esperanto, das ich nach 1-2 Wochen
Lektuere gleich fluessig sprechen konnte).  

> Syntaktische Mehrdeutigkeiten sind in der Realität kein Problem.
> Meistens werden sie durch den Zusammenhang aufgelöst; wenn dem nicht
> so ist und es tatsächlich darauf ankommt, dann muß man eben eine
> andere Formulierung wählen (eine Patentschrift ist ja kein
> Gedicht).

Syntaktische Mehrdeutigkeiten und Zwangsredundanzen (wie "Buergerinnen und
Buerger") machen mir in meiner Uebersetzungspraxis viel Kopfzerbrechen.
Ich bin gezwungen, beim Uebersetzen von Patentschriften neue Ambiguitaeten
einzubauen, die das Original nicht enthielt und die die Lesbarkeit
erschweren.  Ich habe ferner selber mit Ambiguitaeten zu tun, die ich
mangels Kenntnis des (oft sehr fachlich begrenzten) Kontextes nicht
sicher entschluesseln kann.  Unter all das muss ich noch meinen
Beglaubigungsstempel setzen.

Hinzu kommt, dass ich beim Formulieren eigener Gedanken an Grenzen stosse,
sobald die Zusammenhaenge komplex werden.  Wildwuechsige Sprachen erziehen
zum Pfuschen. 
 
> Loglan/Lojban paßt gut in eine Zeit, in der man glaubte, unmittelbar
> vor der vollautomatischen Computerübersetzung zu stehen und in der,
> wohl nicht ganz zufällig, die Whorf-Hypothese grade in war. Aber
> modern?

Die Zeit ist noch nicht lange her.  Sie dauert auch noch immer an.
Lojban erlebte besonders in den 90er Jahren eine schwungvolle Entwicklung,
wie man an der Mailingliste und am Entstehen von Parsern und
allerlei Werkzeugen taeglich sieht.
 
> > Ohne eine normierende Kraft kommt nur das an Sprachsystem zustande, was
> > der DAU unbedingt braucht, um die kurzfristigsten Kommunikationsziele zu
> > erreichen.

> Oh weh.

Ich sage das aus der Erfahrung des Beobachtens aktueller
Sprachentwicklungen heraus.  In asiatischen Sprachen gab es immer wieder
die Entwicklung zum Relativsatz.  Japanisch hat z.B. einen sehr schoenen
Mechanismus dafuer.  Aber diese Entwicklung wird immer wieder vereitelt,
weil der gewoehnliche Sprecher nicht das Beduerfnis nach einer so
komplexen Konstruktion verspuert und Regeln, die gerade beginnen, sich zu
etablieren, missversteht und falsch anwendet.  Die Masse macht's, und das
Ergebnis ist eine plumpe Syntax.   Auch beim Vergleich zwischen der
elitaeren, durch ein Beamtenpruefungssystem gepflegten klassischen
chinesischen Schriftsprache und durch Lautschriftsysteme wildgewachsenen
Sprachen zeigt:  Ausdruckskraft und Einfachheit kommen durch Disziplin.
In einem Fall wird sie von Sprachplanern auferlegt, im anderen von rigiden
Schriftzeichen in Kopplung mit 2000-jaehriger normgebend-elitaerer
Sprachkultur.

Eigentlich wuerde ich diese Hypothesen gerne wissenschaftlicher
untersuchen, aber bisher hatte ich keine Gelegenheit dazu.
 
> -- 
> How can the combination of fragments of knowledge existing in
> different minds bring about results which, if they were to be
> brought about deliberately, would require a knowledge on the
> part of the directing mind which no single person can possess?
>                                                               -- F.A. v. Hayek

Hier geht es vermutlich um mikrooekonomische Ressourcenverteilung.
Ich nehme an, dass Hayek nicht der Meinung war, das Gesetzessystem,
auf dem seine freie Marktwirtschaft beruht, sollte der Anarchie
ueberlassen werden.

--
Hartmut Pilch
http://www.a2e.de/phm/