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Re: Wildwuchs vs Normierung in Kommunikationssystemen



PILCH Hartmut <phm@wtao97.oas>:
> Holger Veit <Holger.Veit@gmd.de>:

>> Beim gesprochenen Wort haben wir genau die Option, uns zwischen
>> einfachen Saetzen und geschnoerkelter Amtssprache mit zigfach
>> geschachtelten Nebensaetzen mit haengendem Verb zu entscheiden.
>> Typischerweise waehlen wir auch die erste Moeglichkeit. Bei
>> der Schriftsprache ist das vollkommen anders. [...]

> Wir haben in wildwuechsigen Sprachen nicht sehr viele Optionen.

> Das deutsche Verb vorzuziehen bedeutet aehnliches wie wenn ich in C einen
> positionalen Parameter "vorziehen" wuerde.

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>
                                   Wenn doch die Deutschen das Verb
                                   so weit nach vorn zögen, "that one it
                                   without a telescope discover can!"
                                                              Mark Twain

Wer der deutschen Syntax leicht verständliche, elegante Sätze
abgewinnen will, muß sie überlisten. Subjekt und Prädikat, das
tragende Hauptwort und sein Verb, sollte er so weit vorn im Satz
plazieren, wie dies grammatisch und stilistisch möglich ist; und
möglich ist da eine Menge, dem vermaledeiten Umklammerungsgesetz zum
Trotz. [...]

[...] die "Frankfurter Allgemeine" hätte nicht schreiben müssen:

     Aber ob der Kern der Geschichte, die wahr ist, weil es sonst
     den Reinfall der Illustrierten und den Prozeß nicht gäbe,
     dort im kaum noch Sichtbaren diesseits oder jenseits der
     Grenze liegt, die ein verwerfliches von einem harmlosen Tun
     scheidet, die die Erfüllung eines Straftatbestandes von
     einem teils ärgerlichen, teils belustigenden, teils nach-
     denklich stimmenden Schelmenstück trennt, scheint derzeit
     kaum auszumachen.

Sie hätte nur zu schreiben brauchen: "Es scheint derzeit kaum
auszumachen, ob ..." Und dann hätten die 56 Wörter folgen können, die
jetzt den vorangestellten, unüberschaubar im Nebel baumelnden
Nebensatz ausmachen. [...]


* Wie man Sätze transparenter macht

Ein praktikables Generalrezept für alle, die ihre Leser nicht bis zum
Ende des Satzes über ihre Absichten im unklaren lassen wollen: Es ist
grammatisch erlaubt und stilistisch oft geboten, Satzglieder und
Satzerweiterungen _auszuklammern_, das heißt die Klammer des Verbs (er
hat .. geholfen, ich erkenne ... an) zu spregen; anders ausgedrückt:
Satzteile nachzutragen, sie aus dem _Mittelfeld_ des Satzes ins
_Nachfeld_ zu schieben. Dafür stehen vor allem die folgenden fünf
Methoden zur Verfügung:

[...]


* Wie man herangeht an einen Satz

5. Viel schulmeisterliches Naserümpfen wird vermutlich ein anderer
Vorschlag hervorrufen, der zwar die grammatische Korrektheit wahrt,
aber einem verbreiteten Sprachgefühl und den Sitten des Deutsch-
unterrichts zuwiderläuft: _das Verb vor die Umstandsangabe oder vor
das Objekt_ zu ziehen. "Morgen soll ich meinen Dienst in diesem Hause
antreten", das ist die geläufige Wortstellung; Thomas Mann hat sie
nicht gewählt, er hat die Umstandsangabe aus der Satzklammer, dem
Mittelfeld des Satzes herausgenommen: "Morgen soll ich meinen Dienst
_antreten_ in diesem Hause."

Das ist ein Punkt, bei dem sich zu verweilen lohnt. Winkt hier eine
Chance, daß das Deutsche sich der Wortstellung des Englischen und der
romanischen Sprachen nähert, die so sehr viel logischer und über-
sichtlicher, vielleicht auch eleganter ist? Oder handelt es sich um
eine literarische Eigenheit und Eigenmächtigkeit, die wir den Literaten
überlassen sollten, statt an den bewährten Regeln der deutschen
Wortstellung zu kratzen, die neben ihren Tücken schließlich auch ihre
Reize hat [sic]?

Merkwürdig nur: Von einer Eigenheit kann nicht die Rede sein. Vielmehr
hat sich die deutsche Schulgrammatik des 19. Jahrhunderts _gegen_ eine
verbreitete literarische Tradition auf das Nach-hinten-Schieben des
Verbums festgelegt, mit der Spätfolge, daß die Mehrzahl der
Deutschlehrer, zumal der ausländischen Germanisten ihm hartnäckig
anhängt, daß auch die "Zeit" noch 1981 meinte, die Umkehrung sei ein
Verstoß gegen die Grammatik, den das Sprachgefühl nicht hinnehme.

Ein Rätsel. Denn die näheren Umstände oder das Objekt hinter das Verb
zu schieben ist beste deutsche Tradition, und zugleich gewinnt sie bei
zeitgenössischen Journalisten von Rang an Boden. Luther schrieb nicht:
"Du sollst nicht deines Nächsten Weib begehren", sondern: "Du sollst
_ nicht begehren deines_ ..." und "Wenn aber der Menschensohn _kommen
wird_ in seiner Herrlichkeit ..." Schiller: "Wir wollen _sein_ ein
einzig Volk von Brüdern", und dies nicht nur des Metrums wegen -- den
an Goethe schrieb er: "Vor einigen Augenblicken _trifft_ Ihr letzter
Brief _ein_ zu unserer unerwarteten großen Freude."

Und weiter so. In Johann Gottfried Seumes Gebet vor seiner Wanderung
nach Syrakus: "... daß der Himmel mir _geben möchte_ billige,
freundliche Wirte." Johann Peter Hebel: "... bis sein Grab _gerüstet
sei_ auf dem Kirchhof." Heine: "Klingende Flammenströme des Gesanges
sollen sich _ergießen_ von der Höhe der Freiheitslust in kühnen
Kaskaden, wie sich der Ganges _hinabstürzt_ vom Himalaja!"
Gottfried Keller: "Sie hörten die Lerchen _singen_ über sich."
Thomas Mann: "Wer bin ich, daß ich das Wort _führen soll_ zu seinem
Preis?" Heimito v. Doderer: "Ein Leierkasten setzte _laut ein_ auf der
Straße." Max Frisch: "Sie will nichts mehr davon wissen, was hier auf
der Kajüte _geschen ist_ vor siebzig Jahren." Siegfried Lenz: "... so
das ihm nichts übrig blieb, als ihren Arm _zu packen_ in spielerischem
Polizeigriff und sie _abzuführen_ den fleckigen Pfad entlang."
Hans Magnus Enzensberger: "Natürlich dürft ihr keine Angst _haben_ vor
dieser oder jener Partei." Peter Handke: "Ein schmaler Himmel, der
_verhüllt wird_ von dem Qualm der Eisenwerke."


* Wie man eine Chance nutzt

Hätten wir also in unseren Schulaufsätzen und unseren Briefen ständig
an der Literatur vorbeigeschrieben? Und nicht nur an der Literatur!
"In unsere Hand ist die Verantwortung _gelegt_ für eine glückliche
Zukunft oder für die Selbstzerstörung der Menschheit", hieß es 1959 im
Godesberger Programm der SPD. Albrecht Schöne, bis 1985 Präsident der
Internationalen Vereinigung für Germanische Sprach- und Literatur-
wissenschaft, schrieb: "Die Sprachwissenschaft gehört zu den
Disziplinen, welche am wenigsten _angewiesen sind_ auf öffentliche
Resonanz." Ähnlich Hans-Martin Gauger, Vizepräsident der Deutschen
Akademie für Sprache und Dichtung: Man müsse "zunächst auf die
Unterschiede _achten_ zwischen den verschiedenen Anlässen des Redens
und Schreibens".

Die Star-Autoren der berühmten _Seite Drei_ der "Süddeutschen Zeitung"
haben sich auf diese Wortstellung schon beinahe festgelegt: "Reagen,
der sich _bereitgefunden hatte_ zu einem Dialog"; "Der Anwalt hat noch
nie ein Honorar _gesehen_ von seinem Mandanten"; "Eine Anhöhe, die den
Blick _freigab_ auf eine weite Ebene"; "Ein Parteitag, der die
kämpferische Einstimmung _bringen sollte_ in den bayerischen Landtags-
wahlkampf" (hier unter Inkaufnahme des Nachteils, daß die _Einstimmung
in_ den Wahlkampf zerrissen wird durch das vorgezogene Verb).

Eine Kette von Luther zu prominenten Literaten, Germanisten und
Journalisten von heute -- worauf warten wir noch? Das Verb vor die
Umstandsangebe oder das Objekt zu ziehen ist grammatisch erlaubt,
manchmal schön -- ein Beitrag, eine schwerfällige Sprache ein bißchen
leichtfüßiger zu machen -- und immer überaus praktisch.

Freilich, man kann es auch übertreiben wie Jeremias Gotthelf, der in
einem Satz nicht nur die Umstandsangabe, sondern zweimal sogar das
Subjekt hinters Verb schob: "So schrie laut auf die Menge und meinte,
es breche durchs Dach das Grüne, sich zu zeigen in ihrer Mitte."
Überdies läuft man Gefahr, das Jiddische zu parodieren (oder das, was
man dafür hält): "Ich habe gemacht ein gutes Geschäft."

Fazit: Nutzen wir die Chance zu durchsichtigeren Sätzen, ohne unser
Stilgefühl zu geißeln oder gar eine Marotte zu entwickeln -- das
heißt: Ziehen wir das Verb nicht immer vor, aber ziemlich oft; nicht
in jedem Fall, aber in jedem zweiten. Gehen wir mit der Umklammerung
so um, "wie es die anthropologischen Gesetze des Gedächtnisses seit eh
und je verlang haben" (Harald Weinrich). Sollten unsere Kinder auf
ähnliche Weise ein anderes Stilgefühl entwickeln und diese
Wortstellung als die übliche empfinden, so wäre die deutsche Grammatik
ihren schlimmsten Tolpatsch los.
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(Wolf Schneider: Deutsch für Kenner. Die neue Stilkunde. Stern-Buch,
Hamburg, 1987. ISBN 3-570-07958-9. Kapitel 18: "Das Ende der
Umklammerung".)