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Re: Wildwuchs vs Normierung in Kommunikationssystemen



> 
> > Casus cnacsus meiner letzten Antwort: die *Moeglichkeit* etwas auszudruecken,
> > reicht allein nicht, es muss getan werden; und es muss eine automatische,
> > oder zumindest weitgehend automatische Konversion existierender Texte geben,
> 
> waere gut, wenn es das alles gaebe.  Wenn bisherige Sprachen so weitgehend
> automatisch konvertierbar waeren, wo sollte dann noch der Vorzug von
> Lojban liegen?

Ebend. Lojban loest entweder ein Problem, welches es nicht gibt, oder es
loest ein Problem, indem es zwei weitere erzeugt. Letzterer Effekt ist genau
das Problem der formalen Verifikation von Systemen, welches ich unlaengst
erwaehnt habe: Wunderschoen, aber niemand beschreibt Systeme als puren
mathematischen Formelverhau. Also braucht man Abbildungen von existierenden
Beschreibungsformen auf den Formelkram, und mit solchen Profanitaeten gibt
sich kein ernsthafter Wissenschaftler ab. The details are left as an exercise
to the reader.

> > andernfalls ist es theoretische Onanie ohne jeglichen Wert, yet another grammar
> > sozusagen.
> 
> falsche Alternative.
>   
> > Wenn ich als Poet nicht nur meine eigenen Neurosen verarbeiten will, besitze
> > ich einen Leser. Und an den richte ich mich dann, mit einer Kommunikationsform,
> 
> Hier mischst du wieder ein Problem herein, das mit den Qualitaeten der
> Sprache nichts zu tun hat.  Das Totschlagargument der Windows-Befuerworter
> lautet immer "Ein Betriebssystem ist nur so gut wie die darauf laufenden
> Applikationen".  Also ist Windows das beste.
>
Im betrachteten Kontext, ja. Wenn ich MS-Office als Mass aller Dinge betrachte,
ist Windows das beste (dass dann die Auswahl bereits minderwertig war, ist
in der Tat ein anderes, ein qualitatives Problem).
>
> Womit ein Poet spielen will und wie viele Leser er dazu braucht,
> entscheidet er selber.

Keine Widerlegung meiner Behauptung. Oben stand die Einschraenkung, dass
er einen Leser braucht und besitzt. Ein Poet findet vielleicht sogar Leser,
wenn er Java-Lyrik oder Perl-Gedichte produziert. Es gibt jegliche Extrema,
insbesondere in der Kunst, und vielleicht ist es gerade Gegenstand und Ziel
von Kunst, mit Fettecken, Muell-Skulpturen oder weissen Leinwaenden als
Minimal-Art zu provozieren. Es ist wohl gerade da das Ziel, Grenzen zu
ueberschreiten, Strukturen zu zerbrechen, neue Konstruktionen zu untersuchen.
Eine bestehende Grammatik einer Sprache ist nur! ein! Werkstoff, um etwas
auszudruecken.

>                          Esperanto und Lojban eignen sich prinzipiell sehr
> gut dazu.  Wildwuechsigkeit der Sprache ist nicht Voraussetzung fuer
> Poesie.  Normiert der Sprache fuehrt nicht zu normiert-steriler Anwendung. 

Aber gerade! S.o. Esperanto und Lojban sind nur! ein! Werkstoff. Weder *der
einzige* Werkstoff, noch *der beste* Werkstoff, noch ein *Universal*-Werkstoff.
Wenn Du nicht, wie bereits auch in anderen Diskussionen (etwa Linux vs. MS), 
direkt den fanatischen Absolutheitsanspruch vom Stapel gelassen haettest,
haette niemand was gesagt. Aber nein: Lojban erschlaegt gleich alles, als
XML/SGML-Ersatz, zur Abbildung von Wildwuchssprachen (und dann gleich auch
fuer Hardcore-Experimentalliteratur - jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils).

> > kann. Vgl. das Gedicht "Das grosse Lalula" von IIRC Christian Morgenstern. Lojbanisiere
> > dieses, und wenn das nicht geht, warum nicht? Anschlussfrage: was haette dann dieser
> > Formal-Schwachsinn in der Literatur zu suchen?
> 
> Lassen sich Morgenstern oder Carroll denn ueberhaupt gut in andere
> Sprachen (z.B. Chinesisch) uebersetzen?  Manche Dichtung ist eben eng an
> die Gegebenheiten ihres Sprachmediums gebunden.  

Das ist der Punkt. Wenn ein solches Werk eng an die Ursprungssprache gebunden
ist und als unuebersetzbar gilt, oder eine Uebersetzung wiederrum fuer sich
ein neues Literaturwerk ergibt (vgl. Joyce, Finnegan's Wake in deutscher
Uebersetzung), dann ist es ebenso unwahrscheinlich, dass es in eine kuenst-
liche Sprache verlustfrei abbildbar ist. Etwas mathematisch ausgedrueckt:
Der "Wort-Raum" oder der Wertebereich solcher Werke ist quasi die 
Vereinigungsmenge aller existierenden natuerlichen Sprachen. Wenn Du sowas
in Lojban abbilden willst, muss Lojban genau die gleiche Maechtigkeit besitzen.
Abgesehen davon, dass ich es schon dadurch in Zweifel ziehe, dass Lojban 
vorgibt, Vorteile bezueglich Ambiguitaet zu besitzen, so dass keine
bijektive Abbildung mehr moeglich ist (Sackgasseneffekt: Du koenntest 
vielleicht alles in Lojban ausdruecken, aber bekommst nicht mehr die
urspruengliche Bedeutung zurueck), ist mein zweiter Zweifel, dass ich Lojban
ueberhaupt nicht die Expressivitaet natuerlicher Sprachen abnehme.

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