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Re: [FYI] Kunstpreis an Linux




>> Der Witz an der Sache war ja genau, dass der Preis
>> fuer ein Werk vergeben wurde, bei dem die Kuenstler gar nicht
>> mehr vollstaendig identifizierbar sind - die totale
>> Demokratrisierung und Industriealisierung, die das Netz eben
>> bewirkt.
>
>Ich sehe eher eine totale Deindustrialisierung der Softwareproduktion.  Es
>gibt keine Betriebsraete, keine demokratisch abstimmenden Gremien mehr. 
>Wer gut programmiert, hat das Sagen.  Also auch eine totale
>Entdemokratisierung.

Oh no. CSCW und CASE, um nur zwei wirkungsmaechtige Technisierungs-
paradigmen zu nennen, fungieren als Industrialisierungs-Agenten, weil
sie a) analog dem von der Dampfmaschine angetriebenen
Transmissionsriemen eine Vielzahl von Menschen unter
gesellschaftlich-funktionalen Imperativen zusammenfuehren und b) die
maschinelle Herstellung von Maschinen zum Ziel haben, in deren
eigenlogische Entwicklung Menschen nur regulierend eingreifen
koennen. CSCW und CASE (in welchen Inkarnationen auch immer) wird man
nicht wieder los. Zwischen Mensch und Werkstueck schiebt sich die
eigen-operative Maschine, die auf ihre Weise die Arbeitsteilung
aufhebt. Nicht die unmittelbare Herstellung des Werkstuecks (als
Beispiel: Programm), sondern die Bedienung der Maschine (als
Beispiel: Programmierumgebung, in denen Objekte zusammengestoepselt
werden, bei dem zuletzt Source herausfaellt), die wiederum in
Maschinerie eingebunden ist (als Beispiel: eine Workflow-Instanz),
ist zu erlernen. Direkt am Produkt (Programmsource, Text, HTML-Seite)
darf nicht mehr geruehrt werden, sondern an der Maschine 
(Source-Generator, SGML/ UDO-Dokumentationssystem, Datenbank).

Und zur Demokratisierung ist zu sagen:

1. Wenn man unterstellt, wie es Soziologen typischerweise tun, dass
zwischen Produktionsweisen und Organisationsformen ein struktureller
Zusammenhang besteht, dann kann man im Umkehrschluss vermuten, dass
der geringe Organisationsgrad in den Softwarefirmen, die zu einem
guten Teil noch von divenhaft sich gerierenden Pionieren
patriarchisch gefuehrt werden, daher ruehrt, dass keine modernen
Softwaretechniken eingesetzt werden. Es wursteln die meisten noch in
primitivster handwerklicher Manier unter primitivsten
Organisationsbedingungen. Stimmt, und die kennen dann auch keine
Betriebsraete.

2. Wenn das handwerkliche Niveau durch die schleichende Durchsetzung
der Technisierung ueberschritten ist, kommen Entscheidungstechniken
und Abstimmungstools zum Einsatz. Und dann ist es eine Frage der
Organisationsintelligenz unserer Informationsverarbeiter, ob sie es
sich gefallen lassen, dass ihre Kreativitaet und Arbeitsfaehigkeit
nun noch vollstaendiger als bislang ausgequetscht wird, oder ob sie
sich dagegen mit den gleichen Mitteln, die sie knechten, zu wehren
wissen. Um die Organisationsintelligenz von Informationsverarbeitern
ist es zumeist bislang sehr schlecht bestellt, da sie, insbesondere
im akademischen Bereich, noch immer einem ungedeckten,
kontrafunktionalen preindustriellen (ganz im Unterschied zu einem
postindustriellen funktionalen Individualismus) Individualismus-Kult
huldigen (und genau deshalb in allen Job-Ausschreibungen
Teamfaehigkeit, um die es schlecht bestellt ist, so hoch gehaengt
werden muss. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Teamfaehigkeit noch
dringlicher als die eigentliche Kompetenz, die schon irgendwie
vermittelbar ist, gesucht wird). Eine weitere Erhoehung des
Leidensdrucks koennte diese Situation aendern. Dieser Leidensdruck
entsteht nicht mehr wie im 19. Jahrhundert aus unmittelbarer
existentieller Not, wohl aber daraus, ueber immer weniger
selbstbestimmte Zeit zu verfuegen, gerade weil man zu den ganz
wenigen echten Experten auf dem Gebiet zaehlt und jede Sekunde
Rechnerausfall immer teuerer wird. Es MUSS einem immer etwas 
einfallen. Man geraet permanent an die kognitive Leistungsgrenze, die
sich auch koerperlich auswirkt, wenn ich mir den hohen Grad an
Fettleibigkeit betrachte - dies ist ganz analog zur kognitiv 
routinisiert-idiotischen und koerperlichen Leistungsgrenze zu 
Beginn der Industriealisierung.

3. Allerdings fuehrt die Zunahme dieses Leidensdruck nicht mehr
zwingend zu den alten betriebsinternen Mitbestimmungsmodellen, die in
Wahrheit an den bestehenden Machtverhaeltnissen ja gar nicht ruehren.
Hier sehe ich drei Entwicklungen: Der Leidensdruck wird durch die
gegenwaertig hohen Gehaelter auch fuer junge Einsteiger abgekauft.
Wenn der Leidensdruck dann doch irgendwann zu gross wird, bei
psychisch abnehmendem Grenznutzen eines hohen Gehalts, machen sich
Betroffenen selbstaendig, um zumindest theoretisch mehr Zeit- und
Aufmerksamkeitshoheit zurueckzuerlangen. Die Selbststaendigmachwelle
kann natuerlich zum einen als ein Krisen-Anzeichen gelesen werden -
so halten es naheliegenderweise die Gewerkschaften - man kann sie
aber ebensogut als eine andere Form der Demokratisierung der
Produktionsverhaeltnisse begreifen. Bei jungen Firmen mit mehreren
Inhabern kann man dann oftmals ueberaus demokratische
Organisationsformen beobachten, wenn sie quasiraetedemokratisch, bei
voller Verantwortung fuer das Ganze und fair anteiligem Einstreichen
des produzierten Mehrwerts, agieren.

4. Man darf nicht vergessen: Jede Maschine ist selbst schon Material
gewordene Demokratisierung. Einem Haushaltsmitglied stehen im Schnitt
vermutlich so etwa 20kW/h an Dauerleistung zur machinellen
Verfuegung. Schraeg und groesszuegig gerechnet duerfte das etwa der
Verfuegungsgewalt ueber eine Dauerleistung von 1000 Sklaven
entsprechen, deren Abruf nicht nur einem Koenig vorbehalten ist. Ich
habe gerade den vermutlich ersten niederdeutschen Roman ins Netz
gestellt, eine historische Familiengeschichte ueber 558 Seiten von
Heinrich Ohm, den zwei Verlage aufgrund des zu grossen
Verkaufsrisikos fuer plattdeutsche Grosserzaehlungen ablehnten
(http://www.netuse.de/~maro/de_mohls.html). Allein dass diese
Moeglichkeit besteht, ist ein Kennzeichen fuer demokratische
Verhaeltnisse durch die Nutzung von Technik.

Gruss, Martin
-- 
Martin Rost - http://www.netuse.de/~maro/ - Germany, Kiel