[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Überlegungen zum Bertelsmann-Memorandum und PICS



-----BEGIN PGP SIGNED MESSAGE-----
Hash: SHA1

Hallo Axel,

hier mal meine Überlegungen zum Bertelsmann-Memorandum und PICS:

PICS stellt zwar einen alten Hut dar, eine eher technisch-funktionale
Komponenete, ist aber gleichzeitig die Basis auf der immerhin das gesamte
Filter/Ratingmodell des Bertelmann-Memorandums (siehe Sandwich-Modell)
basiert.

Aber zu den qualitativen Änderungen zu PICS und der bestehenden
Situation:
Stellt sich erst mal die Frage wozu?
Die bisherige Situtation ist gekennzeichnet durch weite Verbreitung
individueller Filterprogramme wie z. B. CyberPatrol, die die im
Memorandum genannten Zielgruppen: Eltern, Lehrer, Nutzer einsetzen.
Jedes Programm stellt eine eigenwillige Interpretation von PICS dar, mit
ihren Unschärfen und Fehlern.
In einzelnen Ländern gab und gibt es Gestzesbemühungen und
Vorschriften,
die das Rating und Filtern zum Ziel haben (siehe CDA in den USA, die
australische Gestzgebung die sich an das Bewertungssystem im
audio-visuellen Bereich orientiert und es auf das Internet überträgt,
die
Taliban, die in Afganistan einfach das gesamte Internet herausfiltern.),
in Quantität und ideologischen Beweggründen aber teilweise erheblich
voneinander abweichen.
Demgegenüber stehen noch die schlecht ausgebildeten, unerfahrenen oder
unterbesetzten Strafverfolgungsbehörden, die teilweise in einer
rechtlichen Grauzone operieren (Internet-Streifen).
Ein weiterer Teil, der aus Bürgerechtlern und Internetnutzern besteht,
wendet sich radikal gegen jede Rating- und Filterabsicht.
Internationale Rechtsysteme bestehen nur im Entwurfsstadium
(EU-Aktionsplan)

Die Situation, wie es das Bertelsmann-Memorandum anstrebt:

Es gibt ein internationales, rechtlich legitimiertes Filter- und
Ratingsystem, mit regional-kulturellen Anpassungen.
Zu diesem Zweck wird ein Regime eingerichtet, dass folgende Komponenten
hat:
Die Internet und Softwareindustrie stellt das "gesetzgebende Organ",
durch Festlegung von Verhaltenskodizes, mit den Internetnutzern als
beratendes Gremium. Das Organ ist durch die offizielle, staatliche
Gesetzgebung legitimiert.
Als "ausführendes und abstrafendes Organ" treten die
Selbstregulierungsinstitutionen auf, mit Begleitung der offfiziell dazu
ermächtigten, staatlichen Strafverfolgungsbehörden.
Organe der politischen Meinungsbildung (z. B. Bundeszentrale für
politische Bildung) koordinieren mit den PR-Abteilungen oben genannter
Industrien Aufklärungs- und Informationskampagnen, um dem Internetnutzer
die Filter- und Ratingsysteme zu verdeutlichen.
Dem ganzen übergeordnet eine unabhängige & internationale Institution
(UN
?), die die grundlegenden Kategorien der Klassifizierung und Filterung
als Vorgabe an die Selbstregulierungsinstitutionen erarbeitet.
Zusammengenommen haben wir am Ende eine Art "Internetregierung", mit
einheitlichen Gesetzesgrundlagen, Gewaltenteilung, bürokratischen
Hierarchien, wie wir sie vom UN oder EU-Apparat her kennen, in dem PICS
nur noch eine der Grundkomponenten in einem einheitlichen Konstrukt
darstellt.
Gleichzeitig stellt das Memorandum den Versuch dar, alle bereits
bestehenden Entwürfe, Filtersysteme, Strafverfolgungskonzepte und
-Pläne
zu integrieren. Z.B. finden sich Parallelen zu:
- - dem EU Aktionsplan zur sicheren Nutzung des Internets
- - dem niederländischen "Meldepunt" System
dem "Freeze-and-Preserve" Konzept, Plänen zu einer
international-koordinierten Zusammenarbeit zwischen nationalen
Strafverfolgungsbehörden und zwischen den Starfverfolgungsbehörden und
den ISPs zu Internetdelikten von Scott Charney, Vorsitzender der
G-8-Arbeitsgruppe "High-Tech-Kriminalität"
- - TKG und IuKDG

Meine Bewertung:

Der Nutzer
Die Filter- und Ratingsysteme sollen Nutzerautonomie gewährleisten und
dienen der Emanzipation des Nutzers.
Gleichzeitig spielen die Nutzer im Verhältnis zur starken Präsenz der
Industrie in allen Ebenen und Organen des Regimes nur eine untergeordnete
und marginale Rolle.
Entweder ist er der inkompetente und desorientierte Verbraucher, dem
präventiv die Schwellenängste genommen werden müssen, oder, noch
wichtiger: Er wird zur polizeilichen Hilfskraft ernannt, die die
Internet-Fahnder durch Meldungen an die Hotlines unterstützt.

Die Industrie
Auffallend ist, dass sich Schlagworte wie Wettbewerbssteigerung,
Nachfragesteigerung, Vertrauensförderung sehr häufig finden. Ist das
ganze Regime gar als verkaufsfördernde Massnahme gedacht, um die
Gewinnraten zu steigern ?
Das Regime soll der "Regulierung von oben" zuvorkommen, aber wir bekommen
dafür nur die  andere Form der durch die Industrie dominierten
"Regulierung von oben", denn das Regime ist durch ein starkes Übergewicht
der Industrie gekennzeichnet: Sie erlässt Verhaltenskodizes, stellt
Selbsregulierungsinstitutionen auf, entwirft eigene Filtersysteme.
Sie will eine "leicht zugängliche, unparteiische und unabhängige
Institution (die Hotline) einrichten", die Beschwerden und Verstössen
nachgeht und vergisst dabei eine mit den gleichen Attributen versehene
Institution, die über den Rechtsweg beschritten werden kann, um sich
gegen unverhältnismässige oder gar verfassungswidrige Bewertungen und
Filterungen wehren zu können, denn den Content-Providern kommt nur eine
Rolle zu: Desjenigen, der seine Webpages labelt.
Nebenbei: Nur die Industrie setzt diese Institution ein, die gleichzeitig
unparteiisch und unabhängig sein soll ? Sprache ist verräterisch.
Und das Ganze, obwohl nach eigener Aussage im Memorandum, der Anteil an
illegalen und jugendgefährdenden Inhalten und Straftaten im Verhältnis
gesehen, verschwindend gering ist. Es gibt ja nur Aussagen, da eindeutige
und anerkannte Quellen und Statistiken nicht vorliegen.

Die Regierungen
Es werden keine eindeutigen Absagen in Richtung Zensur getroffen, sondern
"Enpfehlungen", denn das ganze System bietet genügend Ansatzpunkte, an
denen staatliche Zensurmassnahmen greifen können:
- - Softwarehersteller müssen bestimmte, vorgegebene Filter in Browser
einbauen
- - Nutzerschnittstellen können so manipuliert werden, dass z. B.
nicht-gelabelte Seiten automatisch nicht-angezeigt werden,
- - nur bestimmte Verwendung von "Wörtern" im "Grundwortschatz" der Label
und in den Bewertungsschablonen

Zum Schluß noch eine Aussage: "Auch ohne gezielte Suche kann man beim
»Surfen« im Netz auf Seiten stoßen, die unerwünschtes,
problematisches
oder anstößiges Material beinhalten."
Das kann ich nur als Meinungsmache bezeichnen. Ich benutze das Internet
und das WWW schon seit 4,5 Jahren und ausser Werbebannern, die der
"Sex-Industrie" dienen, ist mir ohne gezielte Suche kein anstößiges
Material untergekommen.
Auch in der Bibiothek kann man ohne gezielte Suche über Chemiebücher
stolpern, in denen die Ingredenzien und Prozeduren beschrieben werden,
die zum "Bombenbau" dienen können.
Und vielleicht die wichtigste Frage: Wer bestimmt eigentlich, was
problematisch, anstößig, unerwünscht ist ?
Der Nutzer ? Er ist nicht involviert, sondern muß erst durch die
Industrie emanzipiert und zur Autonomie erzogen werden.

Ciao
Kai

-----BEGIN PGP SIGNATURE-----
Version: PGP Personal Privacy 6.5.1
Comment: PGP for authentication and privacy in the nets

iQA/AwUBN+Ktz+03OQawj839EQJDowCgv1a7kKNUudVO4hnC0SqESjkMVKkAn03B
AacI/XXoSIYXMCFIAz1Nv9T8
=0Ssq
-----END PGP SIGNATURE-----