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Re: Religionen



On Tue, Dec 07, 1999 at 08:38:10AM +0100,
	Kristian Koehntopp wrote:
> In schulung.lists.fitug-debate I wrote:
> >Dies ist eine selbst referentielle Aussage, welche von da an nicht das
> >zugrundeliegende Glaubensaxiom erfordert. Sie wird dadurch zu einem
> >Transporter fuer beliebige andere, sogar dem urspruenglichen Glaubenssatz
> >entgegengesetzte andere Aussagen. [ ... ] Du bist verpflichtet, das _Mem_
> >(das informationelle Ideen-Aequivalent eines Gens), welches deine Gruppe
> >repraesentiert, zu erhalten.
> 
> Das ist zwar im Kern richtig, suggeriert aber eine Beliebigkeit
> ("Ich habe nuneinmal dieses Mem und muss es deswegen erhalten.
> Ich glaube an ... und muss diesen Glauben weiterverbreiten und
> o.a. Aussage entschuldigt das."), die aufgrund einer anderen
> Beliebigkeit aufgehoben wird: 
> 
> Im Gegensatz zu Genen sind uns unsere Meme nicht aufgezwungen.
> Wir koennen sie mehr oder weniger leicht verstehen, bewerten,
> anpassen oder sogar im Laufe unserer Entwicklung sogar verwerfen
> und loswerden. Und weil wir diese Wahl haben, haben wir auch die
> Verantwortung, eine solche Wahl zu treffen - Transzendenz ist
> ein bloedes Problem: eigentlich sollen uns solche Ethikmeme doch
> helfen, Entscheidungen zu treffen und nicht neue, schwierige
> Entscheidungen von uns verlangen. 

Im Grunde ACK: es kommt darauf an, eigene Verantwortung zu uebernehmen.
Der interessante Aspekt der erwaehnten Glaubensmeme ist, dass sie nicht
nur einen ethischen Gedanken transportieren, sondern zusaetzlich, wie
DNS bestimmter Struktur, ihre eigene Replikation foerdern und seine
Weiterverbreitung katalysieren. Insofern sind sie das Aequivalent viraler
DNS, im Gegensatz zu "normal" replikativer DNS . Die 10 Gebote oder aehnliche 
Kodizes des friedlichen Zusammenlebens implizieren ja nicht nur
"wenn ihr euch alle so oder so verhaltet, wie Ich Mem es euch vorgebe,
dann wird sich eure Situation verbessern", sondern auch den Imperativ,
demzufolge es sinnvoll ist, wenn auch andere von diesem Mem ueberzeugt
werden. Es bedarf dann nur noch einer aeusseren Beobachtung, dass tat-
saechlich bei Beachten der Gebote die Zahl der eingeschlagenen Schaedel
in der Umgebung abnimmt, und der Gedanke bekommt seine in ihm eingepraegte
Dynamik. 

Ein vergleichbares Mem wie die selbstbezueglichen religioesen
Aussagen ist beispielsweise auch die GPL und der Open Source-Idee,
die spaetestens seit Netscape- und Java-Source zum Traegervehikel fremder
Gedanken (konkret kommerzieller Art) geworden sind. Mit der Ausbreitung
von Standard-Linux-Distributionen (RedHat, SuSE, Caldera, etc.) und dem
Aufspringen der Big Player auf den Linuxzug wird das urspruengliche
Free-Software-Mem ebenso eine andere Wirkung erhalten als urspruenglich
beabsichtigt. Die Bergpredigt ist auch etwas anderes als ihre Implementierung
durch die Kleriker.

Anknuepfend an die Eigenverantwortung: solche Meme sind so konstruiert (oder
besser, sie haben sich durch einen evolutionaeren Veraenderungsprozess derart
zieloptimiert), dass sie gerade, vergleichbar wiederum (hier) dem HIV-Virus,
an der fuer sie gefaehrlichen Stelle angreifen. HIV zerstoert die Zellen,
die an seiner Immunabwehr beteiligt sein wuerden, Religion nimmt dem
Beteiligten die Selbstverantwortung ab und uebertraegt sie auf eine
uebergreifende Kollektiv-(nicht-)Verantwortung oder eine hoehere Instanz.
Dies funktioniert, gerade weil bekanntermassen der individuelle Entschei-
dungsprozess mit zum Schwierigsten gehoert, mit dem das Individuum konfrontiert
ist. Es wird daher nach Pattern in seiner Umgebung suchen, welche eine
Entscheidungshilfe bieten. Das ist bei der Entscheidung fuer die Installation
von Windows auf dem PC (Hilfreich: es gibt massenhaft "Backupkopien" von Software
dafuer in der Umgebung) nicht anders als bei der Suche nach dem "richtigen"
Partner oder der Wahl seines Glaubens (make it so, dann gibt es im Jenseits
dafuer ewige Belohnung).

Dabei ist der Mechanismus, den CoS benutzt, noch eine Stufe subtiler als der
religioese Verhaltenskodex heutiger Weltreligionen, naemlich insofern, dass
er einerseits dem Beteiligten eine Pseudokarriere bietet, durch geeignetes
individuelles Investment, im woertlichen Sinne, in der strukturinteren
Hierarchie bis zu einem "operierenden Thetan Stufe 8" aufzusteigen (was grosse
Aehnlichkeit zu einem Schneeballsystem besitzt und durch das Eigenaufwand
die Struktur stabilisiert - wer von CoS angelockt wird, ist auf den ROI bedacht,
fuer das, was er bereits reingesteckt hat - da steckt die Zielgruppe!), 
andererseits aber auch ueber den empfindlichen finanziellen Verlust hinaus,
die Ausstiegsschwelle extrem anhebt, bis hin zu konkreten, realen, und gegen-
waertigen psychologischen und physischen Repressalien. Auch dies ist
strukturverstaerkend und gruppenstabilisierend, wenn auch oft nicht durch die
Ueberzeugung der Beteiligten. Nicht umsonst strebt CoS die Ausschaltung von
potentiell strukturgefaehrdendem Gedankengut an, etwa der Abschaffung der
Psychologie - die Beschaeftigung mit dem Selbst koennte ein Infragestellen
des Kartenhauses bewirken.

Im letzteren Punkt (Ausstiegsschwelle) unterscheidet sich CoS vom heutigen 
Christentum, welches heute nicht mehr, wie im Mittelalter noch, durch eine
eigene Inquisitionsgerichtsbarkeit, unliebsame Auffassungen verbrennen kann.
Insofern ist eine neo-laissez-faire-Verharmlosung als "Weltanschauung", und
damit das in einen Topf werfen mit z.B. Fussballvereinen oder religioesen
Sekten oder anderen gesellschaftlichen Gruppen und Subkulturen nicht
angebracht. Der Vergleich mit vergangenen bekannten Terrorpraktiken
der katholischen Kirche rechtfertigt nicht den Einsatz vergleichbarer
Mittel in der heutigen Zeit. Eine Kirche, welche heute im Namen der
Heiligen Glaubenskongregation Leute wie Eugen Drewermann auf den
Scheiterhaufen bringen wuerde, wuerde in der Jetztzeit ebenso als
terroristische Vereinigung verurteilt.

> Das aendert aber nichts daran, dass "Ich musste diese Moslems
> toeten, um das Mem der katholischen Kirche zu verbreiten" keine
> Entschuldigung fuer einen Kreuzzug ist - selbst als Erklaerung
> muss es sich strecken.

Diese Denke steht heute im Konflikt und Konkurrenz mit anderem weit verbreiteten
Gedankengut, und hat es damit vergleichsweise schwer sich generell durchzu-
setzen. Andererseits existiert immer noch eine verbreitete xenophobe Haltung
gegenueber Andersdenkenden und Andersaussehenden. Ob ich das Werfen eines
Mollys in ein Asylantenwohnheim weltanschaulich begruende oder nicht, aendert
wenig am Faktum der Aggression.

Holger

-- 
"Well, from what I've read, scientific studies show men tend to be better at
dealing with visual concepts, while women are better at complex linguistic
communication." - "You mean..." - "Men are from MACs, women are from VMS"
	Erwin the AI, www.userfriendly.org