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Forwarded mail....
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- Subject: Forwarded mail....
- From: Heiko Recktenwald <uzs106@ibm.rhrz.uni-bonn.de>
- Date: Fri, 24 Dec 1999 12:03:16 +0100 (CET)
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Über Menschen, die man außer mit dem Messer nicht verletzen kann
Wolfgang Pohrt antwortet
Am 9. November meldete Meißen einen Lehrerinnen-Mord. Während
des Unterrichts hatte eine maskierte Person 22mal mit dem
Küchenmesser zugestochen. Es war ein Schüler im Alter von 15
Jahren. »Fast noch ein Kind«, meinte »Bild«. Werden die Täter
immer jünger?
Jung sein ist eine Herzensfrage, sagen unsere Alten. Von
denen behauptet übrigens niemand, daß sie immer
säuischer und bestialischer würden, wenn wieder mal ein
Kinderpornoring aufgeflogen ist.
»Ich habe sie einfach gehaßt«, soll der Junge bei seiner
Festnahme gesagt haben. Das erklärt nach allgemeiner Überzeugung
nichts.
Deshalb passieren solche schlimmen Dinge. Sind Leute,
für die ein Mord ein Raubmord oder Sexualmord sein muß,
damit sie ihn begreifen können, nicht unaussprechlich
fies? Muß man sie dafür nicht hassen? Ich wüßte kein
besseres Motiv für einen Mord.
Aber umgebracht haben Sie deshalb noch keinen.
Nicht meine einzige Unterlassung. Auf dem Nangaparbat
war ich auch noch nie. Im Leben eines jeden Menschen
gibt es viele Dinge, die er nicht geschafft hat.
Eine Woche vor diesem Mord ging es in Bad Reichenhall rund. Vom
Fenster eines Wohnhauses aus wurde das Feuer auf Passanten
eröffnet: sieben Verletzte, drei starben. Der Täter erschoß
ferner seine bei ihm weilende Schwester und zuletzt sich selbst.
Ein Lehrling war es diesmal, gerade 16 Jahre alt. Wie erklären
wir uns das?
Ist das so schwer? Man lehrt uns, alle Menschen ohne
Ansehung der Person zu achten. Die Menschen sind
wesensgleich, heißt das, und das Wesen ist gut. Wir
haben hier einen analytischen Befund und ein Werturteil.
Der Junge nun hat zwar den analytischen Befund
akzeptiert, aber das Werturteil verworfen. Die Menschen
sind gleich heißt dann »gleichermaßen tötenswert«.
Bemerkenswerterweise hielt er dies Urteil durch bis zur
letzten Konsequenz und tötete am Ende sich selber.
Solcher Rigorismus hat einmal die Person als Subjekt
ausgemacht und früher die Figuren in Geschichten und
Filmen, an die man sich länger als eine halbe Minute
erinnert. Heute sind Überzeugungen verhandelbar und
situationsbedingt. Kein Oppositioneller, der nicht
Dialogbereitschaft erkennen lassen würde. Er erwartet
dann ein Angebot und versucht, für seine Leistung,
nämlich das Umdenken oder den Paradigmenwechsel, einen
möglichst guten Preis zu kriegen.
Aber woher kommt solcher Menschenhaß? In Meißen wie in Bad
Reichenhall wurden im Nachlaß der Jugendlichen angeblich brutale
Computerspiele und Gewaltvideos gefunden.
Irgendwo muß das Zeug ja liegen. Aufessen kann man die
Datenträger nicht, und sie werden in Mengen verkauft.
Für Kinder ist das Abspielen die Medizin, die sie
brauchen, damit die brutale wirkliche Welt für sie
erträglich wird. In den beiden Fällen, über die wir
sprechen, war die Medizin zu schwach. Die Realität war
stärker.
Was meinen Sie damit?
Man braucht ein Gewaltvideo wie »Das
Kettensägenmassaker« nicht zu kennen, um es gelegentlich
in den Recorder schieben zu wollen. Der Name sagt alles,
er ist Erleuchtung, Erlösung und Verheißung. Nicht
immer, aber manchmal. Zum Beispiel dann, wenn, wie beim
letzten OSZE-Gipfel in Istanbul neulich, Jelzin und
Schröder Arm in Arm zu sehen sind.
Um Triebabfuhr geht es dabei sicher auch. Viel
wichtiger, vielleicht sogar lebenswichtig aber ist es,
einen Verlust aufzufangen, den Verlust des Glaubens an
die Menschheit und die Welt. Er ist die Voraussetzung
dafür, irgend etwas lieben, mögen oder schätzen zu
können, und das wiederum ist die Bedingung allen Glücks.
Glück schließlich ist das einzige Mittel, welches die
bösen Impulse besänftigt, die zweifellos jeder Mensch
auch besitzt.
Zum Glauben an die Menschheit und die Welt gehört
zwingend die Idee der Gerechtigkeit und damit die der
gerechten Strafe. Die Idee, weil es die gerechte Strafe
real noch nie gegeben hat. Sie existiert nur in der
Gestalt einer Hoffnung oder Erwartung, egal ob des
Jüngsten Tages, eines bewaffneten Aufstands oder eines
Revolutionstribunals.
Diese Hoffnung und Erwartung aber ist tot. Das
moralische Empfinden rebelliert, und der Verstand sagt:
Es kann nicht sein, was ich sehe. Die Bilder beweisen:
Es ist aber so. Es ist nicht nur so, sondern es zeigt
sich so, wie es ist, in der schamlosesten Weise und in
aller Öffentlichkeit. Und es zeigt sich so, weil es sich
seines Sieges und seiner Fortdauer bis in alle Ewigkeit
sicher ist.
Das ist dann der Punkt, wo die Gewaltphantasien
einsetzen müssen. Sie versprechen eine Welt, wo wirklich
einmal die Letzten die Ersten wären und uns die
Ausbeuter nicht später als bewunderte Wohltäter
begegnen. So können die Gewaltphantasien den Glauben an
die Menschheit retten und vor der fürchterlichsten
Verzweiflung schützen. Bei den Jungen von Meißen und Bad
Reichenhall konnten sie es nicht.
Wir bezweifeln stark, daß die beiden Jungs sich für OSZE-Gipfel
und dergleichen interessierten.
Sicher nicht. Das Beispiel war nur ein didaktisches
Brückchen, eigens errichtet zu dem Zweck, KONKRET-Leser
mit ihren verborgenen Empfindungen vertraut zu machen.
Daß ein Fischer oder Scharping auf der Mattscheibe die
Phantasie des Betrachters auf Abwege führt und in seinem
Herzen dann böse Wünsche keimen - das räumen
KONKRET-Leser vielleicht eher ein, weil sie in diesem
Fall ihre Regungen politisch rationalisieren können.
Es sind aber nicht die politischen Taten der Personen,
die uns ein süchtiges Verlangen nach Kettensägen,
Kreissägen und ähnlichem Werkzeug empfinden lassen, wenn
wir ihrer ansichtig werden müssen. Vielmehr sind es ihre
Gesichter. Und es sind nicht nur ihre Gesichter. Es sind
die Gesichter aller, die das Fernsehen zeigt.
Es zeigt sie uns in Großaufnahme, und dabei blicken wir
obendrein gleichsam durchs Schlüsselloch. Wir können
hinschauen, ohne den Blick senken zu müssen. Im
wirklichen Leben wäre die Art, wie wir Gesichter auf der
Mattscheibe betrachten, ein unerhörter Affront. So
schaut man Sachen an, aber keine Menschen. Wir sind also
eingeladen, so lange, so genau und so erbarmungslos
hinzuschauen, wie wir es im wirklichen Leben nie
dürften. Aus Moderatoren und Redakteuren, aus Politikern
und Talk-Show-Gästen, aus Sportlern und Starlets
beiderlei Geschlechts formt sich dann, nach gründlicher
Prüfung und reiflicher Überlegung, das Bild einer
Gattung, an deren Erhalt uns wenig liegen kann.
Ist also doch das Fernsehen schuld?
Das Fernsehen ist heute alles, ein Staat und Wirtschaft
umfassender Apparat. Zugleich liefert es das Weltbild.
Es liefert das zutreffende Bild einer Welt, in welcher
jeder jeden und alles verkauft, und zuallererst sich
selbst. Ein millionenschwerer Tennis-Star ist sich für
Brotaufstrich-Reklame nicht zu schade. Ein Präsident
nimmt lieber die Ausstrahlung einer Video-Aufzeichnung
über sein erbarmungswürdiges Sexualleben hin, als auf
sein Amt zu verzichten.
Alles wird in den Dienst der Selbsterhaltung gestellt,
das Selbst am Ende auch. Selbsterhaltung geht dann in
Selbstauslöschung über. Das Fernsehen zeigt uns
Personen, von denen nichts mehr übrig ist. So muß man es
verstehen, daß töten im Jargon heute auch »alle machen«
heißt. Das wahre Horror-Video läuft im Hauptprogramm zur
besten Sendezeit. Wir sehen eine Welt der lebenden
Leichen.
Warum schaltet man nicht ab?
Weil das wirkliche Leben zum Einschalten zwingt. Es ist
nicht auszuhalten, darum sitzen die Kinder vor dem
Monitor. Man flieht und kommt vom Regen in die Traufe.
Flucht wovor?
Vor der Welt, die für ein Kind in erster Linie die
Eltern sind. Und die sind Abziehbilder der Gestalten,
die man im TV zu sehen bekommt. Selbsterhaltung als
Selbstauslöschung praktizieren alle. Was ist der
Mittelstand ohne die Fassade von Gesetzestreue,
Sittenstrenge, Rechtschaffenheit? Und wie präsentiert
sich der Mittelstand heute? Skrupellos und verlottert,
und die einzige Energie, die er kennt, ist die
kriminelle. Deshalb fühlt die Nation sich würdig
vertreten durch einen Außenminister mit Vergangenheit.
Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Der
Verbrecher bricht das Gesetz, um sein Selbst zu retten.
Statt als kleiner Angestellter tagaus, tagein hinter dem
Schalter einer Bank zu verkümmern, überfällt er sie. Er
nimmt sich mit der Waffe, was er braucht, um dafür nicht
seine Lebenszeit, also sein Leben hergeben zu müssen. Er
unterwirft sich keiner Regel, aber seine Lebensführung
besitzt einen vernünftigen Sinn. Verbrecher sind sie
also nicht, unsere abgehechelten kleinen
Selbstverkäufer, trotz aller kriminellen Energie. Sie
sind es nicht, weil der Lohn der Schlechtigkeit
entfällt. Er wird nicht einmal mehr erwartet. Die
Lumpereien dienen nicht der Befreiung von der Arbeit,
sondern sie sind selber welche von der härtesten und
stressigsten Art. Ihr einziger Zweck ist das endlose
Weitermachendürfen. Das brauchen die Entkernten, weil
sie an nichts mehr hängen und ohne das Weitermachen ihr
Leben wie ein angestochener Luftballon zusammenfällt.
Sie können den Kindern nicht zeigen, wie man lebt, und
sie können sie nicht lieben. Sie können es nicht, weil
sie nichts mehr lieben können, nicht einmal sich selbst.
Was tun allein gelassene, ungeliebte Kinder? Sie
schalten den Fernseher ein.
Die jugendlichen Täter als Opfer und Rebellen? Im Nachlaß eines
der Jungen wurden Hitler-Bilder entdeckt.
Schröder-Bilder wären schlimm. Vom Nationalsozialismus
hört ein 16-Jähriger heute, wenn irgendwo wieder
Gedenkveranstaltung oder Feierstunde ist. Die
TV-Nachrichten bringen es dann, wie Thierse, Vollmer,
Süßmuth, Schily auf Hitler schimpfen. Und der Junge
überlegt: Wer solche Gegner hat, kann kein ganz übler
Bursche sein. Ich täte es, wenn ich es nicht besser
wüßte.
Wird die Jugend zu wenig über die Nazis aufgeklärt?
Wer sollte es tun, ohne daß ein Junge denkt: Lieber die
als der?
Die Wehrmachtsausstellung, was immer man gegen sie einwenden
kann, hatte es versucht.
Wie schön, daß sie vorbei ist. Mir sind vor allem die
vielen von der Presse angekündigten Eröffnungsfeiern in
Erinnerung. Mein Eindruck war, daß Veranstalter und
Festgäste sich dabei wechselseitig Pomade auf den
Hintern rieben. Nichts gegen erfolgreiche, wohlgenährte,
glatt rasierte Leute im dunklen Anzug mit Fliege oder
Schlips. Sowas gehört zum Opernball, und gegen
Opernbälle wüßte ich nichts einzuwenden.
Aber wenn solche Leute sich redenschwingend in Pose
werfen, und wenn sie sich dann auch noch wichtigtuerisch
neben den Fotos abgelumpter, ausgemergelter,
stoppelbärtiger Menschen zeigen, die nach ihrem Tod am
Galgen hängend geknipst worden sind, dann empfinde ich
das als obszön und pervers. Zumal der Veranstalter ganz
andere Maßstäbe anlegt, wo es ums Recht am eigenen Bild
geht. Die Verbreitung eines Fotos, das ihn ja keineswegs
am Galgen zeigte, sondern nur mit leicht ramponiertem
Konterfei, wurde untersagt.
Wir haben bislang nur von den hiesigen Verhältnissen gesprochen,
aber die meisten Amok-Kids gibt es in den USA.
Weiß man das? In den frühen 80er Jahren gab es einen mir
bekannt gewordenen und von keiner Zeitung erwähnten
Fall, und vielleicht war das gar kein Einzelfall. Ein
14jähriger Junge hatte seine Mutter erstochen: Sie von
Beruf Kinderpsychologin, der Vater Pädagoge, linkes
akademisches Milieu. Klare Sache: Gegen zwei von der
Sorte hat ein Junge nur bewaffnet eine Chance. Warum?
Menschen ohne Gewissen, ohne Selbst, ohne Scham und ohne
Würde kann man außer mit dem Messer nicht verletzen.
Man kann sie weder bloßstellen noch kränken, weil hinter
der Fassade oder der Maske nichts ist. Sie brechen nicht
zusammen, und es bricht keine Welt für sie zusammen,
wenn ihnen bewiesen oder wenn öffentlich bekannt wird,
daß sie verächtliche kleine Schurken sind.
Paradebeispiel sind die Clintons, die neuerdings wieder
zu dritt Hand in Hand für die Kameras posieren. Das ist
der Menschentyp, der Kinder - und nicht nur sie - zur
Waffe greifen läßt.
http://www.infolinks.de/konkret/2000/01/pohrt.htm
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