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Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft

Dieter Grimm: "Den Rechtsstaat kann man nicht verteidigen, indem man ihn außer Kraft setzt,"

<http://www.welt.de/data/2004/08/14/319038.html>

"Man muss Andersartigkeit tolerieren"

Den Rechtsstaat kann man nicht verteidigen, indem man ihn außer Kraft setzt, meint der Verfassungsrechtler Dieter Grimm

Die WELT: Deutet sich im langwierigen Verfahren um Motassadeq und Mzoudi nicht schon eine strukturelle Schwäche des Rechtsstaates an? Ist er zu weich?

Dieter Grimm: Was wäre denn die Alternative? Kurzer Prozess? Gar kein Prozess? Nein, wir haben es mit dem Verdacht einer Straftat zu tun, und für die Beurteilung, ob der Verdächtige sie begangen hat und welche Strafe er erhält, möchte ich mir keine andere Instanz als die unabhängige Justiz vorstellen. Dass man eine strafrechtliche Verurteilung von einer höheren Instanz überprüfen lassen kann, gehört für mich ebenfalls zu den Segnungen des Rechtsstaats. Es gibt keinen Grund, Terrorismusverdächtige davon auszunehmen.

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Die Welt: Feinde der Demokratie hat es immer gegeben. Versteht das die Gesellschaft wirklich, die doch Sicherheit statt Freiheit will?

Grimm: Ich vermute, dass die Gesellschaft beides will. Ihre Freiheit soll sicher sein. Freiheit nur für die Mehrheit und deren Meinungen ist aber keine. Die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung des Grundgesetzes erlaubt auch die Ablehnung von Demokratie und Rechtsstaat. Das ist eine Stärke, keine Schwäche. Die Grenze verläuft erst dort, wo Meinungen in kämpferische Aktivitäten gegen die grundgesetzliche Ordnung übergehen. Hierfür stellt das Grundgesetz Instrumente zur Verfügung, aber eben wieder solche, die mit demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sind.

Die Welt: Im Zweifel für die Islamisten?

Grimm: Man muss Andersartigkeit tolerieren. Aber man muss weder tolerieren, dass man in der eigenen Existenz vernichtet wird, noch, dass einem ein Ordnungsmodell aufgezwungen wird, dem man in der eigenen Verfassung gerade abgeschworen hat. Die Frage ist allein, welche Mittel man zum Schutz der eigenen Existenz und der verfassungsrechtlichen Ordnung einsetzt. Und da gilt: So groß die Bedrohung auch ist - ein System, das auf Menschenwürde und Rechtsstaat baut, kann man nicht verteidigen, indem man diese Grundsätze für die Feinde außer Kraft setzt.

Dieter Grimm, Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin und von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht, ist einer der renommiertesten Juristen der Bundesrepublik. Das Gespräch mit ihm führte Andrea Seibel

Artikel erschienen am Sam, 14. August 2004

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