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Frischer Wind bei den Netzarchitekten

Stefan Krempl   17.10.2000 

Interview mit dem neuen Icann-Direktor Andy Müller-Maguhn 

Nach zwei Monaten Wahlkampf endete vergangene Woche das von zahlreichen
Pannen überschattete Experiment der ersten globalen Internet-Wahlen
für den Aufsichtsrat der bisher nicht gerade für ihre Transparenz
bekannt gewordenen Netzverwaltung Icann. 

Wie erwartet, machte der durch seine Pressearbeit für den Chaos Computer
Club zum Netzpromi aufgestiegene Hacker Andy Müller-Maguhn [0] das
Rennen. Nun heißt es für den Datenreisenden, sich an die Umsetzung
seiner "Wahlversprechen" zu machen und für ein Internet zu kämpfen, dass
allen Nutzern offensteht. 

Es war eine lange Nacht, die sich Andy Müller-Maguhn Mitte vergangener
Woche um die Ohren schlug: Am Mittwoch früh um 2 Uhr sollte die Wahl von
fünf Direktoren aus aller Welt zur obersten Netzbehörde, der Internet
Corporation for Assigned Names and Numbers ( Icann [1]), beendet sein.
Doch kurz vor 1 Uhr morgens stiegen in dem Hacker mal wieder Zweifel
auf, ob bei der ersten globalen Internetwahl alles mit rechten Dingen
zuging. "Server nicht erreichbar", hieß es zu diesem Zeitpunkt wie schon
am Beginn der zehntägigen Abstimmungsperiode auf der Site, wo die
europäischen Icann-Mitglieder eigentlich ihre Favoriten unter den
sieben Kandidaten bestimmen können sollten. Ein kleiner Schock für den
29-jährigen Hacker aus Berlin, da er selbst sein Votum noch nicht
abgegeben hatte. 

"Das ist, als ob sich 80 Millionen Wähler um zwei Urnen drängeln",
ärgerte sich Müller-Maguhn über den Server von Election.com, einer New
Yorker Firma, die Icann mit der technischen Durchführung der
Online-Abstimmung beauftragt hatte. Doch in Zukunft wird der Sprecher
des Chaos Computer Clubs ( CCC [2]), der nach einer Verlängerung der
offiziellen Wahlperiode um eine halbe Stunde dann doch noch zum Zuge
kam, bei der Planung und Durchführung weiterer Icann-Wahlen selbst ein
Wörtchen mitreden dürfen. Denn als wenige Stunden später die Ergebnisse
vorlagen, führte der Hacker mit 5948 von insgesamt 11309 abgegebenen
Stimmen (Link auf Artikel dazu). Den zweiten Platz belegte Jeanette
Hofmann vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin, die 2295
Surfer gerne als ihre Vertreterin bei der in Kalifornien angesiedelten
Wächterin über die Netzadressen und Domain-Namen gesehen hätten. 

Stefan Krempl sprach mit dem frisch gekürten Icann-Vorstand über die
Prioritäten seiner Arbeit im Rahmen des obersten Netzgremiums, über die
nötigen Schritte zum Aufbau einer festen Nutzerbasis und
Mitgliederorganisation sowie über seine Chancen, bei Icann mehr als nur
eine Feigenblattfunktion zu erfüllen. 

Die Flut der Glückwunsch-Emails flaut langsam ab. Haben Sie sich schon
Gedanken gemacht, was als Icann-Direktor alles auf Sie zukommt außer
langen Flugreisen rund um die Welt? 

Andy Müller-Maguhn: Die anstehende Arbeit war auch ohne
Direktoriumsposten bereits absehbar. Es muss in einer ersten Stufe jetzt
darum gehen, die regionalen wie auch globalen Probleme und Anliegen der
europäischen Nutzer im Bezug auf die Icann-Themen zu sammeln und dabei
zumindest eine informelle Vernetzung der europäischen
Nutzerorganisationen zu schaffen. Diese Arbeit beginnt sozusagen jetzt
im Hinblick auf die relativ kurze Zeit, die zur Verfügung steht,
um die Punkte dann auf dem anstehenden Treff in Kalifornien auch zu
adressieren.


 Wann beginnt Ihr offizieller Einstieg in das "Icann-Jet-Set"? Haben Sie
schon eine Einladung zum nächsten Meeting [3] in Kalifornien im November
erhalten? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Offiziell habe ich bisher nur eine
Glückwunsch-Mail mit der Benennung von Ansprechpartnern und der
Mitteilung bekommen, dass man
  sich freuen würde, mich im November in Kalifornien zu sehen.
Offizieller Einstieg ist dann wohl im Laufe des Meetings in Los Angeles.


 "Es wird Krach geben" bei Icann, zitiert Sie der "Spiegel". Haben Sie
konkrete Aktionen geplant? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Dass es Krach geben wird, ergibt sich schlicht aus
der Situation, dass die bisherigen Entscheidungen von Icann auf eine
Menge Kritik
  stoßen, nicht nur bei mir. Allerdings war es bisher so, dass der
Icann-Vorstand öffentlich die Beschlüsse verkündet hat, ohne dabei
etwaige Hintergrund- bzw.
  Vorabdiskussionen öffentlich zu führen. Die Kritiker hatten sozusagen
eine Außenposition. Da mir nicht daran gelegen ist, diese Kultur
weiterhin zu tragen, und mit
  Karl Auerbach ebenfalls ein prominenter Kritiker in den Vorstand
gerutscht ist, wird es sicherlich zu dem einen oder anderen Disput im
Aufsichtsrat - auch in den
  öffentlichen Sitzungen - kommen.


 Haben Sie bereits direkte Kontakte zu Auerbach, dem US-amerikanischen
At-large-Direktor, aufgenommen? Wie weit stimmen Ihre Zielen mit seinen
Positionen
tatsächlich überein? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Erste Kontakte entstehen derzeit per Email, und
viele der von ihm vertretenen Kritikpunkte werden ja nicht nur von mir,
sondern von
  einer ganzen Reihe von Experten vertreten. Vor allem die von ihm
skizzierte Dezentralisierung des Namenssystems entspricht vollständig
meinem Konzept, auch
  weil sie Ausflüchte von Icann, eine Dezentralisierung sei technisch
nicht machbar, entkräftet. 

  Ich habe den Eindruck, dass unsere Stoßrichtung sehr ähnlich ist, auch
wenn ich noch eine ganze Reihe spezifisch europäischer Nutzerinteressen
in Form einer
  Anerkennung des öffentlichen Raumes in den Icann-Policies zu vertreten
habe. So ist es offenbar in mehreren europäischen Ländern wie zum
Beispiel Frankreich
  den Bürgern derzeit nicht einmal möglich, eine Domain in ihrem eigenen
Land bzw. in ihrer eigenen ccTLD zu bekommen.


 Sie hatten selbst die gesamte Wahl immer wieder als
"Legitimations-Simulationsversuch" kritisiert - bleibt da ein fahler
Nachgeschmack als europäischer Sieger? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Sicherlich, die teils völlig absurde Prozedur wird
ja im Nachhinein nicht besser, bloß weil ich es geschafft habe. Einer
der nächsten
  Schritte ist sicherlich, die (Nach)Wahl der noch ausstehenden vier
Direktoriumsposten bei ICANN nach einem klaren Wahlverfahren zu
erwirken. An und für sich
  sollen ja neun der 18 + 1 Direktoren - also die Hälfte - dort
Nutzerinteressen vertreten.


 Was ist die Top-Priorität Ihrer inhaltlichen Arbeit bei Icann? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Die Stärkung des Internets als öffentlicher und
globaler Kulturraum, die Dezentralisierung der Administration, die
Förderung der
  Transparenz der Prozeduren und die Erwirkung von
Mitwirkungsmöglichkeiten für die Nutzer.


 Welche realen Chancen rechnen Sie sich aus, bei Icann angesichts der
Übermacht der Industrielobby im Aufsichtsrat Strukturen zu verändern? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Da ich mir in der Tat als einer von 19 Direktoren
jetzt nicht gleich einbilden kann, hier etwas an den
Mehrheitsverhältnissen auf die
  Schnelle zu verändern, sind die eben geschilderten inhaltlichen
Prioritäten natürlich auch solche, die ich außerhalb von ICANN vertreten
werde. Sowohl eine
  stärkere Vernetzung europäischer Nutzerinteressen, als auch die
Adressierung dieser Interessen an die Öffentlichkeit sowie lokale,
regionale und globale Politik
  sind natürlich auch ohne eine Mehrheit bei ICANN zu realisieren.


 Welche Lehren haben Sie aus der ersten Icann-Wahl gezogen? Was muss bei
der geplanten zweiten Runde anders werden? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Die erste Frage ist schwierig zu beantworten.
Vielleicht lautet die Antwort: Bloß weil eine Wahl schlecht angekündigt
wird, das
  Wahlverfahren teilweise nicht transparent ist und der Wahlserver zudem
dauernd abstürzt, heißt das nicht, dass man die Wahl nicht gewinnen
kann. 

  Die zweite Runde muss nun konkret in Angriff genommen werden. Das ist
sicherlich ein wichtiger Punkt für die Sitzung im November. Es müssen ja
noch vier
  Direktoren frei gewählt werden - nach derzeitiger Sicht wohl global.
Die Wahl muss rechtzeitig und klar angekündigt werden und vor allem nach
einem einfachen
  und verständlichen Wahlverfahren durchgeführt werden. Es kann nicht
sein, dass Leute aufgrund technischer Probleme von der Wahl
ausgeschlossen werden.


 Sie waren auch als CCC-Sprecher schon ein viel beschäftigter
Datenreisender. Können Sie die Clubarbeit noch nebenbei machen oder
haben Sie schon einen
Nachfolger bestellt? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Die Icann-Arbeit betrifft ja größtenteils dasselbe
Themengebiet und insofern verstehe ich mich auch weiterhin als CCC'ler
und bin im
  Netzwerk des Clubs aktiv. Mit der Mehrbelastung durch die eher
europäische bzw. globale Icann-Thematik muss ich natürlich auch erst mal
umgehen. Im Bezug
  auf die Pressearbeit des CCC wird sicherlich bis Ende des Jahres das
ein oder andere Gesicht neu hinzukommen.


 Icann muss so bekannt werden wie der ADAC, meint Ihre ehemalige
Mitbewerberin für den Icann-Posten, Jeanettte Hofmann. Den CCC haben Sie
ja mit ins
öffentliche Gespräch gebracht - wird Ihnen das bei Icann auch gelingen? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Ich finde den Vergleich zwar bescheuert, aber
sicherlich haben die teilweise völlig frei von Nutzerinteressen
gefällten
  Icann-Entscheidungen der Vergangenheit auch damit zu tun, dass vielen
Netznutzern die Bedeutung von Icann gar nicht bekannt war. 

  Ich habe schon den Eindruck, dass die Icann-Wahl eine gute Gelegenheit
ist, auf der einen Seite die überfällige Diskussion über die
Auswirkungen der Architektur
  des Netzes für die gesellschaftliche Entwicklung auch in die Medien zu
bringen und auf der anderen Seite dabei die Bedeutung von Icann für
diese Entwicklung
  aufzuzeigen.


 Mittelfristig wird die europäische Icann-Mitgliederschaft auch über
neue (Funding)Strukturen nachdenken müssen. Gibt es da schon Pläne? 

  
  Andy Müller-Maguhn: Hier gibt es unterschiedliche Ansätze und die
Diskussion ist noch in einem relativ frühen Stadium. Auch wenn mir die
informelle
  Vernetzung der europäischen Nutzergruppen erst einmal wichtiger ist
als die Schaffung irgendwelcher juristischen Konstruktionen, so ist auf
der anderen Seite
  auch die Schaffung einer Organisationsstruktur wichtig, um die
Vernetzung der europäischen Nutzergruppen voranzutreiben. Es steht
natürlich an, eine kleine
  Konferenz mit Vertretern von europäischen User-Gruppen zu
organisieren. Dazu wird man ein Budget für Reisekosten, Hotels etc.
auftreiben müssen. Da eine
  Anlehnung an Partei-, Wirtschafts- oder Regierungsinstitutionen kaum
in Frage kommt, wird es wohl zunächst eine kurzfristige Lösung geben. 

  Es würde mir jedenfalls etwas absurd vorkommen, vor einer
entsprechenden informellen Vernetzung von Nutzerorganisationen jetzt
gleich eine zentralistische
  Institution zu gründen. Das wäre ja in etwa das, was wir Icann
vorwerfen. 


Links 

[0] http://www.datenreisen.de/
[1] http://www.icann.org/
[2] http://www.ccc.de/

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