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Re: Experiment zu Machtstrukturen und Zensur im Internet



In schulung.lists.fitug-debate you write:
>> Kann, Theoressstisch. Bis sich jemand der Sache annimmt....
>> Richtig.

>eben drum soll ja auch den Nicht-Technikern klargemacht werden,
>was man alles so machen kann.

Wir hatten vor sehr langer Zeit auf dieser Liste mal eine
Diskussion ueber die Technikrezeption in unserer Gesellschaft.
Die Landesmutter von Schleswig-Holstein zum Beispiel hat damit
kokettiert, dass sie nichts bedienen koenne, was komplizierter
als ein Telefon ist und befindet sich da mit diversen
Fuehrungskraeften in Politik und Wirtschaft in guter
Gesellschaft. 

Die Darstellung von Technik etwa in "Das Netz" mit Sandra
Bullock vereinfacht technische Sachverhalte auf eine Weise, die
wenig mehr als eine emotionale Reaktion zulaesst und steht auch
hier nicht alleine: Auch andere Medien, und zwar nicht nur
Kinofilme, sondern auch Sachbeitraege in Fernsehen und Radio,
vereinfachen technische Sachverhalte bis auf einen Level, bei
dem letztendlich Null relevante Information uebertraegen wird.

Stattdessen findet eine Auseinandersetzung mit Technik in den
Medien fast ausschliesslich auf emotionaler Ebene ("Gentechnik
in Tomaten: unsicher, boese", "Gentechnik im Vitaminreis:
bejubelnswerter Fortschritt gegen den Hunger") statt.

Gleichzeitig technisieren wir unsere Gesellschaft auf eine Art
und Weise, dass es nicht mehr möglich ist, sein Leben zu führen
ohne mit der betreffenden Technik in Kontakt zu kommen.
Geldkarte, Krankenkassen-Karte, ISDN-Telefon, Set-Top-Box,
eBook, systemgebundene Windows Recovery-CD, elektronische
Motorsteuerung mit Wartungsintervallanzeige - alles dies sind
technische Mysterien, die bewusst so angelegt worden sind, dass
sie sich dem Anwender nicht erschliessen bzw. in einigen Fällen
nicht erschließen können. Technik wird zum Mysterium, und die
Medien machen mit.

Das bezieht sich nicht nur auf die sprechende Barbie-Puppe von
Mattel, die schon sehr früh die Grundlagen zu einer
Mystifizierung legt ("Math is hard."), sondern zieht sich wie
ein roter Faden durch die Technikdarstellung in der
Gesellschaft. Exakte Auskünfte sind gar nicht gewünscht und auch
nicht erwünscht.

So richtig fällt eines das auch nur auf, wenn man einmal in eine
Enklave gerät wo das nicht der Fall ist - eine Frage an
diejenigen von Euch, die auf einer der letzten Geburtstagsfeiern
bei Herrn Donnerhacke eingeladen waren: Hat es auch schockiert,
so viele Menschen auf einem Haufen zu treffen, denen man
nichttriviale technische Sachverhalte nicht zu vereinfachen
braucht, damit sie keine glasigen Augen bekommen? Ich weiß
nicht, ob das nur auf den Freundes- und Bekanntenkreis von Lutz
zutrifft oder eine Eigenschaft des Standortes Jena ist, aber ich
fand das Publikum in seiner Herangehensweise an solche Themen
so bemerkenswert anders, daß mir erstmals bewußt geworden ist,
daß ich "im Normalbetrieb" einen Komplexitätsschoner an habe,
wenn ich mit anderen rede.

>>> Herzlichen Glückwunsch, Du hast verstanden warum wir diese
>>> Arbeit machen! :-)
>> Nein habe ich nicht. Ich bin doof. Von Natur aus.
>
>es geht u.a. darum, den Leuten zu zeigen was möglich ist und wohin der
>Ruf nach Zensur (auch bei Nazis oder schlimmen MP3s) führen kann.

Man mag über die Herangehensweise von Alvar geteilter Meinung
sein, aber diesen Punkt kann man nur unterstreichen. In dem
Moment, wo wir eine freiwillige, wirksame und zumutbare
Filterinfrastruktur haben, etwa zur Umsetzung des Jugendschutzes
- in diesem Moment wird die Verwendung solcher Filter auch für
Erwachsene und zwangsweise zum Thema.

Es gibt viel zu viele Begehrlichkeiten, als das dies nicht der
Fall wäre. Da sind zum einen die Staatsanwaltschaften, die in
diesem Fall sehr gerne die Verbreitung allgemein verbotener
Inhalte in Deutschland unterdrücken möchten. Dann sind da jede
Menge Rechteinhaber, die gerne die Kommunikation zwischen
beliebigen Parteien im Netz kontrollieren möchten, egal ob über
Landes- oder andere Grenzen hinweg - zu diesen Rechteinhabern
gehören neben den Distributionskonzernen für Buch-, Film- und
Musikrechte auch Organisationen wie Scientology und andere,
denen jedes Mittel der Kommunikationskontrolle Recht ist, wenn
sie es sich zu eigen machen können. Und schließlich sind da jede
Menge weitere zivilrechtliche Interessen auf den
unterschiedlichsten Gebieten, die wirksam werden können, sobald
erst einmal die Existenz einer solchen Filterinfrastruktur
gegeben ist.

Natürlich gelten noch immer die grundlegenden Eigenschaften von
verschlüsselter Kommunikation, wie sie im Rahmen der
Kryptodebatte wieder und wieder durchdekliniert worden sind,
sodaß eine solche Kommunikationskontrolle weder wirksam noch
zumutbar sein kann bzw. sodaß interessierte Parteien sie
jederzeit durch die Einrichtung eines gesicherten Kanals
unterlaufen können. 

Dennoch gewinnt der derzeitge Mix an Begehrlichkeiten zunehmend
an Brisanz, unter anderem auch deswegen, weil inzwischen in der
Filterdiskussion jede Menge Dinge vermischt werden -
Freiwilligkeit bei der Nutzung von Filtern und bei der Erzeugung
von Bewertungen werden gerne vertauscht, "Freiwilligkeit" und
Freiwilligkeit werden vermischt ("Nach unseren
Geschäftsbedingungen müssen sie ein Webangebot nach blafasel
raten, um den gekauften Webspace nutzen zu können"),
strafrechtliche, zivilrechtliche und politisch-moralische
Filtermotivationen werden munter durcheinander geworfen ("zur
Meldung von Verstößen gegen das Verbot von Kinderpornographie,
Volksverhetzung und zur Meldung von Urheberrechtsverstößen und
zur Anzeige generell verstörender Inhalte").

Stoppen läßt sich diese Diskussion politisch kaum noch - nicht
in einer Gesellschaft mit einer rein emotional basierten
Technikrezeption, denn hier findet zwangsläufig keine
Sachdiskussion statt. Stoppen läßt sich diese Diskussion nur
noch durch das Schaffen technischer Fakten: Es ist inzwischen
wichtiger denn je, an der Schaffung der technischen
Infrastruktur für eine funktionierende Kryptoanarchie
mitzuarbeiten. NymIP, Freedom und andere Protokolle zur
Schaffung eines sinnvollen Identitätsmanagements und
Kommunikationsschutzes auf der Basis vollkommen anonymer
Kommunikation sind der Schlüssel zum Ende dieser Debatte. Und
inzwischen ist es _eilig_!

Kristian