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Re: Experiment zu Machtstrukturen und Zensur im Internet



Alexander schrieb:

>Wenn ich es systemtheoretisch-optimistisch statt (-pessimistisch)
>wenden würde: Die Kommunikation über Filter sollte vermehrt im
>politischen System stattfinden statt auf Techniker-Kommunikation
>zu vertrauen. In der Kommunikation des politischen Systems kommt
>es auf die Durchsetzungsfähigkeit von Themen an; man verlasse sich
>besser nicht allein auf die Irritierung der Politik durch
>technische Argumente, sondern probiere es über das Medium öffentliche
>Meinung. Oder ist die Auseinandersetzung Deiner Ansicht
>nach schon völlig verloren?

Nein, sie ist noch nicht verloren, vielmehr haben die politischen
Auseinandersetzungen bislang, trotz aller Workshops und Kongresse,
fast gar nicht stattgefunden. Bei den Juristen musste bspw. Herr
Rossnagel in einem, wie ich finde, ansonsten weitgehend belanglosen
Artikel feststellen, wie sehr die Juristen in Bezug auf die
juristische Rekosntruktion des Internet schwoemmen. Das war erst 1997
(Rossnagel, Alexander, 1997: Globale Datennetze: Ohnmacht des Staates
- Selbstschutz der Buerger; in: ZRP 1997, Heft 1: 26-30.) Noch immer
ist in den Kommentaren bspw. ungeklaert, wie man Mailinglists
juristisch zu verarzten hat, ob nach dem TDDSG oder des MDSV. Die
Vorschlaege sind derb, man lege die Zahl der Subscribierten zugrunde
(Spindler und Meier in Roßnagel, Alexander (Hrsg.), 1999: Recht der
Multimedia-Dienste - Kommentar zum IuKDG und zum MDStV, München: C.H.
Beck'sche Verlagsbuchhandlung, Stand: 1. Januar 1999). Waehrend die
Rechtsprechnung langsam anfaengt, sich auf neue Umstaende (allein der
Internationalisierung) einzulassen, hat die Politik die Auswirkungen
des Internet noch immer nicht politisch wirklich zur Kenntnis
genommen. Man spricht die Worte Internett oder Woeld-Waid-Waebb
immerhin nicht ganz falsch aus. Dass saemtliche Formen
gesellschaftlich relevanter Kommunikationen derzeit maschinisiert
werden - und deshalb Identitaetsmanagement, also eine
Industrialisierung auch der persoenlichen Identitaet fuer einen
wirkungsvollen Datenschutz unabdingbar ist: man muss sich dazu selbst
als kommunikativ-technische Konstruktionsaufgabe begreifen, als homo
technicus analog zum homo politicus oder home oeconomicus - ist aus
meiner Sicht noch ueberhaupt nicht politisch thematisierbar. Einige
wenige professionelle Datenschuetzer fangen an, ueber solche
Konzeptionen nachzudenken, mit Gruseln, weil eine solch "kalte
Wendung" eigentlich ueberhaupt nicht in ihr ansonsten "humanistisch"
gepraegtes Konzept passt (deswegen auch die merkwuerdige
konzeptionelle Schieflage, dass ein Recht auf informationelle 
Selbstbestimmung fuer Buerger, aber nicht auch fuer Organisationen
formuliert wird). 

Die politischen Folgen dieser Entwicklungen sind unabsehbar.
Orwell ist aus meiner Sicht genau so wahrscheinlich wie eine
sich selbst organisierende Buergergesellschaft, die die technische
Infrastruktur optimal, unter Staerkung demokratischer Verhaeltnisse,
zu nutzen weiss. Mittelfristig tippte ich auf letzteres, kurzfristig
scheint mir alles offen, weil die beharrenden Machtstrukturen nicht
unterschaetzt werden duerfen. 

>> Wichtig: Machterhalt ist dabei keine moralische Verfehlung, sondern
>> gesellschaftlich notwendige Funktionalitaet. Der Witz ist, dass sich
>> durch Installation des Netzes die Machtformen selber aendern, dass
>> das Setzen auf konventionelle Filter nur ein weitgehend hilfloses
>> letztes Aufbaeumen traditioneller Machtformen darstellt.
>
>Müsste dann nicht kommuniziert werden, dass hier ein Verlust der
>symbolischen Wirkung, eine Schlappe der Macht droht? Wenn der
>technische Fehlschlag einen politischen Fehlschlag nach sich
>zöge, wäre zumindest das doch für das politische System relevant?

Ja natuerlich. Das wunderbare Dilemma ist, dass wenn sich Handlungen
nicht hinauszoegern lassen, mit den alten Mitteln gehandelt werden
muss (sprich z.B. Filter installieren), selbst wenn die Beteiligten
wissen, dass diese nicht mehr angemessen sind. Der Fehlschlag laesst
sich nicht vermeiden. Allerdings ist am politischen System wiederum
sehr spannend, dass es immer kurz vor dem Abgrund steht, aber selten
reinfaellt, und wenn, dann wird es nicht so schlimm. Aktuell sind
es etwa die Probleme der Rentenzahlungen ab 2030. Die Kunst des
Politischen besteht im Kern vielleicht nur darin, permanent die
Katastrophe zu verschieben. Nizza waere ein weiterer Beleg dafuer.

Gruss, Martin 
-- 
Martin Rost - http://www.netzservice.de/Home/maro/ - Germany, Kiel