[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]
EPA-Richter: Technik = praktische wiederholbare Lösung
- To: neues@ffii.org, swpat@ffii.org
- Subject: EPA-Richter: Technik = praktische wiederholbare Lösung
- From: PILCH Hartmut <phm@ffii.org>
- Date: 25 Apr 2001 21:50:55 +0200
- Cc: debate@fitug.de
- Comment: This message comes from the debate mailing list.
- Sender: owner-debate@fitug.de
- User-Agent: Gnus/5.0808 (Gnus v5.8.8) Emacs/20.7
Unsere Seite über die Gesetzeswidrigkeiten und inneren
Widersprüchlichkeiten der neueren eurpäischen Patentrechtsprechung
http://swpat.ffii.org/stidi/korcu/
wurde überarbeitet, mit neuen Verweisen bereichert und mit einer
englischen Übersetzung versehen. Besonders interessant fand ich den
Artikel des EPA-Richters Mark Schar, auf den unten verwiesen wird.
Schar liefert die einzige einigermaßen systematische und
widerspruchsfreie Doktrin, die bisher aus dem EPA-Umfeld zum
Technikbegriff vorgeschlagen wurde. Diese Doktrin bejaht aber
explizit das, was längst EPA-Praxis ist: Patentierbarkeit von allem
menschengemachten unter der Sonne, bis hin zu Organisationsmethoden
und Textstrukturen. Technisch ist nach Schar "jede wiederholbare
praktische Lösung". Zwar ist Schars Argumentation gegen die alte
naturkräftebezogene BGH-Doktrin sehr ärmlich, aber immerhin ist sein
neues System sorgfältig aufgebaut und in sich stimmig. Ferner stimmt
es mit der Praxis des EPA überein und schenkt uns diesbezüglich reinen
Wein ein. Das kann man von den derzeit aus Brüssel und Berlin
durchsickernden Entwürfen und Leitgedanken nicht sagen.
_________________________________________________________________
Patentjurisprudenz auf Schlitterkurs
Grenzenlose Patentierbarkeit oder Beschränkung auf angewandte Naturwissenschaft?
Bisher sind Computerprograme in Europa nicht patentierbar, was nicht
ausschließt, dass eine patentfähiges technisches Verfahren auch
programmgesteuert ablaufen kann. Dieses Verfahren muss jedoch auf
neuen Erkenntnissen über kausale Wirkungszusammenhänge von
Naturkräften beruhen und eine Lösung eines industriellen Problems
darstellen. Der Bereich der reinen Vernunft, d.h. des Rechnens,
Abstrahierens und Programmierens, soll nach dem Willen des
Gesetzgebers von Patentansprüchen frei bleiben. In seinem wegweisenden
Urteil "Dispositionsprogramm" von 1976 stellt der Bundesgerichtshof
fest, dass eine Ausdehnung des Patentwesens in diesen Bereich
grundlegende Freiheitsrechte bedrohen würde und gleichzeitig dem
Fortschritt der davon betroffenen Disziplinen nicht unbedingt
förderlich wäre. Neuere Erkenntnisse der Wirtschafts- und
Informationswissenschaften bestärken diese weise und klare
Grenzziehung des Gesetzgebers und ihre systematische Auslegung durch
die höchstrichterlichen Grundsatzentscheidungen seit 1976, die
letztlich in den heute noch gültigen Prüfungsrichtlinien und
Gesetzeskommentaren ihren Niederschlag fanden und im August 2000 noch
einmal eindrücklich [35]vom Bundespatentgericht bestätigt wurden.
Gleichzeitig gibt es seit den 70er Jahren eine zunehmend
einflussreiche Gruppe von Patentjuristen, die eine grundsätzliche
Beschränkung des Patentwesens auf die "Welt der Dinge" mit dem Hinweis
ablehnen, dadurch müsse das Patentwesen den Anschluss an zunehmend
bedeutende Bereiche des Wirtschaftslebens verlieren. Unter dem
Einfluss dieser Denkweise verfielen die Patentierbarkeitsstandards
Stück um Stück. Zunächst wurde Steuerungslogik im Bereich der
Mikroelektronik patentiert, und die ehemals verpönten
Funktionsansprüche (d.h. Beanspruchung abstrakter Funktionalitäten
unabhängig von einer naturkräftegebundenen Implementationsweise)
wurden zur Regel. Allmählich schien die vom Gesetz geforderte
"Diskriminierung gegen Computerprogramme" nicht mehr zeitgemäß zu
sein. Firmen wie Siemens und IBM investierten viel Geld und Zeit, um
die "gegenüber den Neuen Technologien unaufgeschlossene" Denkweise der
Patentämter durch Grundsatzurteile des BGH in Bewegung zu bringen.
Über das Vehikel der Informationsverarbeitung drang das Patentwesen
dann schließlich in alle wirtschaftlich interessanten Vorgänge unseres
Lebens vor. Die gesamte Liste der Patentierbarkeitsausschlüsse in Art
52 EPÜ, von der Mathematik bis zu den "Verfahren für geschäftliche
Tätigkeit" und der "Wiedergabe von Information", wurde zur Makulatur.
Für die heutigen Rechtsprechungspraxis des Europäischen Patentamtes
ist es belanglos, ob ein begehrter Patentierungsgegenstand auf dieser
Liste steht oder nicht. Selbst wörtliche Ansprüche auf "ein
Computerprogramm, dadurch gekennzeichnet dass ..." werden seit 1997
vom EPA akzeptiert.
Allerdings sind die auf dieser Grundlage gewährten Patente von
ungewissem Wert. Unabhängige Gerichte wie der berühmte 17. Senat des
Bundespatentgerichtes finden regelmäßig Widersprüche in der
Argumentation des EPA und des BGH und weisen Ansprüche auf
Computerprogramme oder Logikinnovationen zurück. Auch bei den
nationalen Gerichten in anderen Ländern gibt es solche Reibungen oder
Unabwägbarkeiten. Daher ist der Patentrechtlergemeinde sehr daran
gelegen, das Europäische Patentübereinkommen zu ändern oder mithilfe
neuer Gesetzgebung beiseite zu drängen. Nachdem das Projekt einer
EPÜ-Änderung im November 2000 am öffentlichen Widerstand gescheitert
ist, steht als nächstes eine Europäische "Richtlinie über die
Patentierbarkeit von rechnerimplementierbaren Erfindungen" an, bei der
es eigentlich darum geht, die [36]gegenwärtige Praxis des EPA, Patente
auf implementationsunabhängige Rechenprobleme zu erteilen, in
Paragraphen zu gießen. Unter dem Namen der "Harmonisierung" und
"Beseitigung von Rechtsunsicherheiten" soll die wackelige Grundlage,
auf der sich die Rechtsprechung des EPA derzeit bewegt, stabilisiert
werden. Bisherige Entwürfe der EU-Patentjuristen zeigen jedoch, dass
dadurch bestenfalls die Widersprüche zwischen Rechtsprechung und
Gesetz, nicht jedoch die inneren Widersprüchliche der EPA-Judikatur
aufgehoben würden.
Weitere Lektüre
-> [37]Thomas Winischhofers Seite über Patente und [38]Juristische
Dissertation von Thomas Winischhofer: Computersoftware und
Patentrecht:
Nach Untersuchung zahlreicher richtungsweisender EPA-Urteile
über die Patentierbarkeit von Programmlogik erklärt
Winischhofer, dass diese Urteile höchst fragwürdig und
widersprüchlich sind. Es bestehen nicht nur widersprüche zum
Gesetz sondern auch Widersprüche zwischen den verschiedenen
Urteilen. Winischhofer fasst zusammen:
Das EPA selbst hat bisher keinerlei Systematik entwickelt. Selbst
die ausführlich diskutierte Entscheidung
"Computerprogrammprodukt/IBM" greift auf verschiedene Einzelfälle
zurück. Die Judikatur des EPA erscheint sohin von Kasuistik
geprägt, eine Definition des erforderlichen "technischen Effektes"
bleibt selbst die zuletzt genannte Entscheidung schuldig - dies
obwohl das EPA, wie bereits erwähnt, gedenkt seine Rechtsprechung
künftig an dieser Entscheidung auszurichten.
-> [39]Mark Schar 1998: What is Technical?:
Ein EPA-Richter schlägt eine systematische Neudefinition für
den Technikbegriff vor, der von der EPA-Rechtsprechung seit ca
1986 in unsystematischer Weise Schritt für Schritt verändert
worden war. Schar schlägt vor, dass jede praktische und
wiederholbare Lösung als technisch zu betrachten sei und daher
patentfähig sein müsse. Diese Definition stimmt mit der Praxis
des EPA überein, und sie bedeutet, dass alle Rechnerprogramme
sowie alle programmierten oder sonstwie in die Praxis
umgesetzten mathematischen Verfahren, Geschäftsverfahren,
Spiele und Datenstrukturen patentfähig sind. Natürlich nicht in
als solche = als Gedankenkonstrukte im menschlichen Hirn,
sondern nur in ihrer praktisch verwertbaren Form. Schar weist
ausdrücklich Doktrinen des BGH von 1966-81 zurück, wonach eine
technische Erfindung uns neues Wissen über
Wirkungszusammenhänge von Naturkräften lehren musste. Zur
Begründung dieser Zurückweisung führt er an, dass einige alte
Schriften von 1900 merkwürdig altmodische und möglicherweise
politisch unkorrekte Formulierungen enthalten. Diese Begründung
dürfte genügen, um die Leser des Journal of World Intellectual
Property zu überzeugen.
-> [40]Gert Kolle: Technik, Datenverarbeitung und Patentrecht --
Bermerkungen zur Dispositionsprogramm - Entscheidung des
Bundesgerichtshofs:
Gert Kolle, heute Bürokrat im Europäischen Patentamt, war in
den 70er Jahren der maßgebliche Rechtstheoretiker in der Frage
der Patentierbarkeit von Computerprogrammen. Er agierte als
wissenschaftlicher Referent und Berichterstatter der deutschen
Delegation bei verschiedenen Patentgesetzgebungskonferenzen der
70er Jahre, bemühte sich stets um einen unparteiischen
wissenschaftlichen Standpunkt fernab jeglicher "ideologischer
Versteinerung", in der die beiden Fronten schon damals
aufeinanderprallten. Im vorliegenden GRUR-Artikel von 1977
erklärt er, warum Computerprogramme nicht als "technisch" im
Sinne des Patentrechts gelten können und warum eine "naiv oder
bewusst" herbeigeführte "Lockerung des Technikbegriffs" zu
unerhörten Sperrwirkungen und unverantwortbaren
Machtanhäufungen führen würde. Laut Kolle muss es daher ein
"Niemandsland des Geistigen Eigentums" geben, und Algorithmen
sollten "vergesellschaftet" werden. Ein wegen seiner Tiefe und
Klarheit sehr empfehlenswerter Artikel, der nach über 20 Jahren
kaum etwas von seiner Aktualität verloren hat.
-> [41]Dr. Swen Kiesewetter-Köbinger: Über die Patentprüfung von
Programmen für Datenverarbeitungsanlagen:
Ein Prüfer am Deutschen Patentamt nimmt die Ungesetzlichkeiten
und Ungereimtheiten der aktuellen Softwarepatentierungspraxis
unter die Lupe -- brilliante und profunde Analyse vom November
2000. Wir haben auch eine [42]englische Übersetzung
angefertigt.
-> [43]Lamy Droit Informatique:
Standardnachschlagewerk des Computerrechts. Erklärt, wie das
EPA schrittweise das Recht verbogen hat und von welch
ungewisser Gültigkeit die auf diese Weise erteilten
Softwarepatente sind.
-> [44]Gesetzesregel über den Erfindungsbegriff im Europäischen
Patentwesen und seine Auslegung unter besonderer
Berücksichtigung der Programme für Datenverarbeitungsanlagen:
Es bedürfte nur weniger Worte, um begriffsstutzigen
Patentjuristen zu erklären, wie Art 52 EPÜ / §1 PatG zu
verstehen ist. Dieser Eurolinux-Entwurf einer EU-Richtlinie hat
bequem auf einer DIN-A4-Seite Platz. Die Vertreter der
[45]Patentbewegung hingegen reden in langen Traktaten von
"Klärung" und "Harmonisierung" und erzeugen dabei mit jeder
Zeile ein Stück mehr Begriffsverwirrung und dissonanzträchtige
Unschärfe.
-> [46]Arno Körber: Patentschutz aus der Sicht eines Großunternehmens:
Der Patentchef von Siemens erklärt, wie seine Abteilung aktiv
zur "Rechtsfortbildung" beigetragen hat, um die Praxis des
deutschen Patentamtes dem Stand der (im globalen
Geschäftsumfeld maßgeblichen) amerikanischen Rechtsprechung
anzupassen.
-> [47]Mellulis 1998: Zur Patentierbarkeit von Programmen fuer
DV-Anlagen:
Der Softwarepatent-Experte des BGH erklärt am Beispiel
Microsoft, warum Softwarepatente wirtschaftspolitisch erwünscht
sein müssen, und zeigt Wege auf, wie man sie trotz Gesetzeslage
einführen kann. Er führt aus, dass der Gesetzgeber nur
untechnische Gegenstände vom Patentschutz habe ausschließen
wollen, und dass Computerprogramme technisch seien. Diesen
Widerspruch löst Melullis, indem er eine Entität namens
"Computerprogramm als solches" konstruiert und ihr die
Bedeutung "Computerprogramm im menschlichen Hirn" zuweist.
Kollege Tauchert vom Deutschen Patentamt hingegen plädiert für
"Sourcecode". Egal, Hauptsache die Worte des Gesetzgebers
werden dadurch belanglos.
-> [48]Politische Ökonomie des Patentwesens: die Mechanismen der
Patentinflation:
In den letzten 200 Jahren hat sich das Patentsystem
kontinuierlich ausgeweitet. Diese Expansion ist nicht das
Ergebnis einer planmäßigen Wirtschaftspolitik sondern vielmehr
eines selbstverstärkenden Mechanimsusses, den man etwa der
Geldwert-Inflation oder dem Rüstungswettlauf vergleichen kann.
Dieser Artikel analysiert die Mechanismen der Patentinflation,
verfolgt ihre Entwicklung und fragt nach möglichen Auswegen.
-> [49]J.P. Smets: Software Useright: Solving Inconsistencies of
Software Patents:
Dieser Artikel zeigt allerlei rechtliche und praktische
Widersprüchlichkeiten der Softwarepatentierung auf.
-> [50]The Impact of Granting Patents for Information Innovations:
Diesem Bericht des Nationalen Forschungsrats der Vereinigten
Staaten zufolge wurden Softwarepatente (Patente auf
Informationsinnovationen) durch Gerichtsurteile ohne
gesetzgeberische Rückendeckung eingeführt, und es scheint
zweifelhaft ob die Ergebnisse dieser Rechtsprechungspraxis im
Einklang mit den erklärten Zielen der amerikanischen Verfassung
stehen, wonach das Patentrecht sich aus seinem Beitrag zum
"Fortschritt der Wissenschaft und der nützlichen Künste"
legitimiert. Das 1981 eingerichtete höchste Berufungsgericht
auf Bundesebene (CAFC) hat das Patentsystem in "unerforschte
Gewässer" geführt, und die Erfahrung der Softwarebranche mit
dem Patentsystem deutet darauf hin, dass dies eine mehr als
zweifelhafte Entscheidung war, die nach einer grundlegenden
Revision durch den Gesetzgeber schreit.
_________________________________________________________________
http://swpat.ffii.org/stidi/korcu/indexde.html
2000-12 [51]SWPAT-AG des FFII
Verweise
35. http://swpat.ffii.org/vreji/papri/bpatg17w6998/indexde.html
36. http://swpat.ffii.org/vreji/pikta/index.de.html
37. http://www.webit.com/tw/patent.shtml
38. http://swpat.ffii.org/vreji/prina/drtw.pdf
39. http://swpat.ffii.org/vreji/papri/jwip-schar98/indexen.html
40. http://swpat.ffii.org/vreji/papri/grur-kolle77/indexde.html
41. http://swpat.ffii.org/vreji/prina/patpruef.pdf
42. http://swpat.ffii.org/vreji/papri/patpruef/indexen.html
43. http://swpat.ffii.org/vreji/papri/lamy98/indexfr.html
44. http://swpat.ffii.org/stidi/eurili/indexde.html
45. http://swpat.ffii.org/stidi/lijda/indexde.html
46. http://swpat.ffii.org/vreji/papri/boch97-koerber/indexde.html
47. http://swpat.ffii.org/vreji/papri/grur-mellu98/indexde.html
48. http://swpat.ffii.org/stidi/tisna/indexde.html
49. http://www.freepatents.org/adapt/useright/
50. http://swpat.ffii.org/vreji/papri/digidilem00/indexen.html
51. mailto:swpatag@ffii.org?subject=http://swpat.ffii.org/stidi/korcu/indexde.html