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Re: Verlust der Verfassung



Hallo Lutz,

du meintest am 21.10.01 um 21:20 zum Thema "Verlust der Verfassung":

> Problem mit der EU. Rechtsdogmatisch wird derzeit der EuGH als übergeordnete
> Instanz der einzelstaatlichen Verfassungsgerichte angesehen. Ebenso

Das ist nicht ganz zutreffend. Dogmatisch gibt es derzeit zwei  
Perspektiven, die sich nur praktisch sehr weit angenähert haben.

Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts fließt die Legitimation der EU  
in Deutschland immer noch aus den Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen  
(sog. Brückenbild). Dementsprechend ist die Ausübung der auf die EG  
"übertragenen" Hoheitsgewalt in Deutschland durch das Grundgesetz  
beschränkt, das aber seinerseits wieder mit seinem Art. 23 den deutschen  
Rechtsraum fast ohne Vorbehalte öffnet.

Fast, aber nicht ganz: Rechtsakte der EG, für die diese keine Kompetenz  
hat (ausbrechende Rechtsakte), sind in Deutschland nicht anwendbar. Das  
BVerfG legt hier aber sehr europafreundliche Maßstäbe an, denn es kann  
nicht Aufgabe der nationalen Gerichte sein, in jedem Zweifelsfall zu  
entscheiden, ob ein Gemeinschaftsrechtsakt noch eine Rechtsgrundlage im  
Vertrag findet oder nicht, da so die einheitliche Anwendung ausgehebelt  
würde. Nur in Extremfällen greift das BVerfG hier ein (bisher noch nie).

Ähnliches gilt für die inhaltliche Prüfung der EG-Rechtsakte an den  
Maßstäben, die Art. 23 GG für die Ausübung der übertragenen  
Hoheitsgewalt aufstellt: Erst dann, wenn der Grundrechtsschutz durch den  
EuGH wesentlich und dauerhaft (!) unter den vom Grundgesetz als  
unabdingbar (!) vorgesehenen Standard absinkt, wirkt sich das vom BVerfG  
postulierte Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH in der Weise  
aus, dass das BVerfG einen Gemeinschaftsrechtsakt wieder direkt an den  
Grundrechten des Grundgesetzes messen kann. Solange das nicht der Fall  
ist und der EuGH einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren  
Grundrechtsstandard sichert, gewährt dieser den Grundrechtsschutz im  
Einzelfall und dem BVerfG ist (durch Art. 23 GG) eine Prüfung untersagt.

> beschränken sich die nationalen Regierungen zunehmend mit der Umsetzung von
> EU-Richtlinien, die ihrerseits Gesetzescharakter annehmen. Für die

Das ist wahr, aber so wenig Gestaltungsspielraum, wie sie uns manchmal  
glauben machen möchten, haben unsere Politiker nicht. Es ist einfach,  
die Verantwortung für unliebsame Entscheidungen abzuschieben ...

> gesetzgeberische Aktivität der EU fehlt aber eine Verfassung, die ein
> juristisches Regulativ, das diese Gesetze aufheben kann, definiert. Ebenso

Der EuGH hat durchaus die Möglichkeit, Gemeinschaftsrechtsakte für  
nichtig zu erklären, und auch die inhaltlichen Prüfungsmaßstäbe  
existieren, da der EuGH rechtsstaatliche Grundsätze und Grundrechte aus  
der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedsstaaten,  
insbesondere wie sie sich aus der EMRK ergeben, abgeleitet hat. Dies  
wurde in Art. 6 II EU ausdrücklich anerkannt, die Grundrechte somit -  
wenn auch nicht in Form eines Katalogs - verbrieft und nunmehr auch  
ausdrücklich zum verbindlichen Maßstab für die Gültigkeit des sekundären  
Gemeinschaftsrechts gemacht.

Als Auslegungshilfe lässt sich mittlerweile auch die Grundrechtscharta  
heranziehen, die allerdings noch nicht verbindlich ist (Proklamation).

> fehlt eine entsprechende europäische Öffentlichkeit, die lobbyartig
> eingreifen kann.

Das ist IMHO einer der wichtigsten Gründe, warum die EU beim derzeitigen  
Stand kein Staat ist und vorerst auch keiner werden sollte.

Das letzte Wort liegt immer noch bei den Mitgliedsstaaten. Ob diese  
davon Gebrauch machen oder nicht, ist eigentlich ihre Sache.

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