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[fitug] Text: Contra Internetsucht



Gibt es Internetsucht?

Die Frage, ob es suchtähnliche Abhängigkeiten im Rahmen der Internetnutzung
gibt, ist ein wesentliches Thema der diesjährigen Saure-Gurken-Zeit. Rein
sachlich betrachtet muß zunächst zwischen den verschiedenen Diensttypen des
Internets unterschieden werden. Sie seien hier anhand der Direktionalität,
also anhand der möglichen Informationsflüsse klassifiziert:
  - Unidirektionale Dienste bestehen aus einem Sender und vielen
    Empfängern ohne eine Möglichkeit, Einfluß auf die Abfolge zu nehmen.
    Das ist der klassische Rundfunkdienst, wie er vom Fernsehen oder
    Radio bekannt ist.
  - Bidirektionale Dienste unterscheiden zwischen mehrerem Anbietern und
    mehreren Kunden. Der Kunde bestimmt ueber einen schmalbandigen Rückkanal
    den Verlauf des Angebotes, ohne dabei den Inhalt des Angebotes
    verändern zu können. Die Werbung bezeichnet diesen Typus der
    Kommunikation fälschlicherweise als "interaktiv", jedoch setzt
    Interaktivität die Unvorhersehbarkeit der Antworten voraus.
  - Polydirektionale Dienste sind alle Dienste, in denen der Kunde immer
    gleichzeitig auch vollberechtigter Anbieter ist, in dem Sinne spricht
    man nur von Teilnehmern, die ohne Einschränkungen miteinander
    kommunizieren können.

In jedem dieser Fälle kann eine Abhängigkeit entstehen. Abhängigkeiten im
Sinne der unidirektionalen Dienste sind bekannt als "Fernsehsucht" oder die
vielgefürchtete "Lesesucht" um 1900, also die Trivialliteratur sich
verbreitete. Besonders am Beispiel der "Lesesucht" kann man erkennen, das es
sich hier um zeitlich begrenzte Phänomäne der Realitätsflucht handelt.
Im Internet werden an reinen unidirektionalen Diensten nur Nachrichtenticker
oder Wetterinformationen angeboten, deren Suchtpotential vernachlässigbar
ist. Radio oder Fernsehen über Internet ist qualitativ so schlecht, daß
jeder normale Mensch lieber die dafür geeigneteren Medien wählen wird.

Bei den bidirektionalen Diensten finden sich im Internet vor allem die
Dienste des FTP und WWW neben einer Vielzahl unterschiedlicher Datenbank-
und Auskunftssysteme. Allen ist ihre unfaßbare Gesamtdatenmenge gemein.
Allerdings ist die Vielfalt und Qualität der beziehbaren Informationen für
eine Einzelperson so gering, daß hier nach dem Ausleben des Spieltriebes und
der Befriedigung der Neugier das Interesse erlahmt. Nach spätestens 3
Monaten hat sich die Nutzung dieses Diensttyps auf das unbedingt notwendige
Ausmaß beschränkt. Die Dienste werden nur noch zur Bekämpfung von Langeweile
oder aus einer äußeren Notwendigkeit heraus eingesetzt. Es sind hier keine
Fälle von Abhängigkeiten bekannt, was nichts über die Ausmaße von Langeweile
in Büros aussagen soll.

Wesentlich interessanter sind die polydirektionalen Dienste, die die
Möglichkeit der schnellen und extrem vielseitigen Kommunikation bieten. So
können Phantasiewelten erschaffen und belebt werden (MUDs; Multi User
Dungedons; Netzspiele, in denen die Spielfiguren fast ausschließlich von
natürlichen Personen gesteuert werden), eine lebhafte Sach- oder
Sinndiskussion entstehen (Usenet; Newsgruppen; redaktionslose "Zeitungen",
die alles abdrucken) oder einfach nur vergänglicher Smalltalk geführt werden
(IRC; Internet Relay Chat; "CB-Funk") oder oder oder. In diesem Bereich ist
finden Menschen, die mit Kommunikation in der Realität Probleme haben
(stottern, blind, aengstlich, schuechtern, häßlich, ...) einen Ansatzpunkt,
die dem Menschen angeborene Gesellschaftssucht auszuleben. Alle Menschen
sind genauso auf Kommunikation angewiesen, wie auf Essen und Trinken.
Problematisch wird es jedoch, wenn diese Betätigung die Isolation der
Realwelt vertieft. Derartige Fälle gibt es regelmäßig, jedoch zeigen sie
den erstaunlichen Nebeneffekt der realen Kontaktaufnahme nach einigen
Monaten. Bei den halbjährlichen Deutschlandtreffen verschiedener Gruppen,
kommen hier (in der Realität) kontaktscheue Menschen zusammen, die ihre
Qualitäten bereits kennen und so nun über körperliche Gebrechen oder
Animositäten leicht hinwegsehen können.

Im eigentlichen Sinne gefährdet sind die sogenannten net.gods, die
Netzgötter. Sie sind die ausgesiebten Workaholics des Netzes. Da jeder seine
eigne Leistung in jedem Schritt und Dienst des Internets einbringen kann,
ist jeder Teilnehmer gefährdet. Die Philosophie zu geben, um nehmen zu
dürfen, führt nun einige Personen zu besonders aktiver Arbeit. Sie halten
sich für unersetzlich in einem bestimmten Bereich und laden sich in den
kurzen Ruhephasen nur noch mehr Arbeit auf, die leicht über ihnen
zusammenschlagen kann. Diese Managerkrankheit kann und tritt in jedem
Bereich des Internets auf, beispielsweise gibt es aktive Menschen, die sich
um die gesellschaftliche Integration des Netzes mit der Gesellschaft bemühen
und die stundenlang, unter Vernachlässigung ihrer eigentlichen Aufgabe, mit
Politiker diskutieren, um bestimmte (aus Unkenntnis entstandene)
Gesetzesinitiativen zu entschärfen. In der Regel merken diese Menschen
jedoch beim ersten Zusammenbruch, daß sie keine Lücke in das Netz reissen,
und kommen damit sehr schnell auf den Boden der Realität zurück. Eine
psychische Gefahr, wie sie bei wirklich unersetzbaren Managern in Betrieben
auftritt, besteht nicht, sie kuriert sich beim ersten Urlaub von allein.

Das Netz ist ein Spiegel der Gesellschaft, der keine neuen Suchtursachen
schafft, jedoch neuen Spielraum für deren zeitweise Auslebung bietet. Wer
dabei arm wird, ist beim falschen Provider. Ein echter Süchtiger weiß immer,
wo es billiger ist.

Fazit: Echte (psychische oder finanzielle) Suchtgefahren sind herbeigeredet.
Die Rückkopplung des Netzes in die Realität ist ebenso stark, wie die eines
Spiegels.

Lutz.Donnerhacke@Jena.Thur.De