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Nulla Poena Sine Lege - Interview mit dem Strafrechtler Professor Dr. Ulrich Sieber



Hallo Leute,

im Spiegel ein Interview mit Prof. Sieber, dem derzeitigen 
Computer- Strafrechtsgourou. Er stellt jetzt nicht mehr nur
auf die Kenntnis, sondern auf den strafrechtlichen Bestimmt-
heitsgrundsatz nach Art. 103 abs.2 GG ab. Damit kommt er zu
einer Ueberdehnung der bisherigen Straftatbestaende durch 
die Staatsanwaltschaften bei Carrier-Providern...
Letztlich wird es wohl doch der BGH entscheiden muessen..

http://194.163.254.145/aktuell/sonv0196400925.html

Rigo
Nulla Poena Sine Lege                                                [Image]

Interview mit dem Strafrechtler Professor Dr. Ulrich Sieber

Von Lorenz Lorenz-Meyer

Die Generalbundesanwaltschaft ermittelt

gegen Unbekannt wegen der im Ausland erfolgten Bereitstellung der
hierzulande verbotenen Ausgabe 154 der Autonomenzeitschrift Radikal im
Internet. Gleichzeitig üben die Staatsanwälte Druck auf deutsche
Internet-Service-Provider aus, den Zugang zu den betreffenden Webseiten zu
sperren. Die Maßnahmen der Bundesanwaltschaft werfen nicht nur politische,
sondern vor allem auch juristische Fragen auf. Um ein wenig Klarheit in die
Angelegenheit zu bringen, haben wir uns mit dem Würzburger Strafrechtler und
Experten für Computerkriminalität und Informationsstrafrecht Professor Dr.
Ulrich Sieber unterhalten.

SPIEGEL Online: Herr Professor Sieber, Mitglieder der holländischen
"Solidaritätsgruppe für politische Gefangene" (SPG) haben die bei uns
verbotene Ausgabe 154 der Autonomenzeitschrift Radikal in den Niederlanden
ins Internet gestellt. Machen sie sich damit nach deutschem Recht strafbar?

Sieber: Nach meiner Meinung, ja. Wenn die eingestellten Texte Tatbestände
des deutschen Strafrechts erfüllen und mit dem Wissen der SPG auch in
Deutschland zugänglich gemacht werden, dann spielt der Ort der
Dateneinspeisung keine Rolle. Für die von der Generalbundesanwaltschaft
genannten Delikte verlangt das deutsche Strafanwendungsrecht - das
sogenannte internationale Strafrecht - zwar nach den Paragraphen 3 und 9 des
Strafgesetzbuchs eine bestimmte Auswirkung der Tat auf dem deutschen
Staatsgebiet. Diese Voraussetzungen sind aber meines Erachtens erfüllt, wenn
die WWW-Seiten in Deutschland abrufbar sind und auch hier abgerufen werden
sollen.

SPIEGEL Online: Und welche Konsequenzen hat das konkret? Reicht der Arm des
deutschen Gesetzes auch über die Grenzen hinweg zu den europäischen
Nachbarländern?

Sieber: Erst einmal stellt sich die Frage nach Rechtshilfe und Auslieferung.
Das ist eine komplizierte Materie. Die Grundlage bilden das europäische
Rechtshilfeübereinkommen und das europäische Auslieferungsabkommen mit den
zugehörigen Protokollnotizen. Hinzu kommt das Schengener Abkommen mit seinen
Durchführungsübereinkommen. Darüberhinaus muß noch die Existenz von
bilateralen Abkommen geprüft werden. Im Grundsatz stehen der
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit selbst innerhalb Europas jedoch zwei
Hinderungsgründe entgegen:

Zunächst setzen Rechtshilfe und Auslieferung nach den genannten Abkommen
eine Strafbarkeit in beiden Ländern voraus. Nach dem Schengener
Durchführungsübereinkommen sind allerdings auch bestimmte
Ordnungswidrigkeiten ausreichend. Wenn die Verbreitung der Texte aus Radikal
in den Niederlanden weder strafbar noch ordnungswidrig ist, dann gibt es
deswegen keine Rechtshilfe und keine Auslieferung.

Darüber hinaus nimmt die niederländische Protokollnotiz zum europäischen
Auslieferungsabkommen Staatsbürger der Niederlande aus. Wir liefern keine
Deutschen ans Ausland aus, die Holländer keine Holländer. Das ist ein
zweiter Grund, weswegen eine Auslieferung scheitern würde.

SPIEGEL Online: Könnten denn die deutschen Behörden bei ihren
niederländischen Kollegen beispielsweise eine Durchsuchung bei der SPG oder
beim Provider erwirken?

Sieber: Durchsuchungen müßten im Wege der Rechtshilfe beantragt werden. Das
bedeutet: Auch eine Durchsuchung setzt voraus, daß die Tat sowohl nach
deutschem als auch nach niederländischem Recht strafbar oder ordnungswidrig
ist. Diese Bedingung wäre nicht erfüllt, wenn das niederländische Strafrecht
oder Ordnungswidrigkeitsrecht die Radikal- Texte nicht erfaßt. Man müßte
sich deswegen zunächst einmal näher mit dem niederländischen Strafrecht
beschäftigen.

SPIEGEL Online: Und wenn die Mitglieder der SPG nach Deutschland reisen -
müssen sie dann gewärtigen, hier festgenommen zu werden?

Sieber: Ja. Wenn die Bereitstellung von Radikal unter deutsches
Strafanwendungsrecht fällt, weil die WWW-Seiten hier abrufbar sind, dann
gilt in der Tat: Sobald die verantwortlichen Mitglieder der SPG zufällig
nach Deutschland kommen, dann kann man gegen sie vorgehen.

SPIEGEL Online: Wie verhält es sich mit dem holländischen Provider "xs4all",
bei dem die SPG ihre Seiten untergebracht hat, und der sie trotz des ganzen
Wirbels ganz bewußt mehrere Wochen stehen gelassen hat, mit der Begründung,
daß diese Texte in den Niederlanden nicht verboten sind? Müssen auch die
Verantwortlichen von "xs4all" mit Maßnahmen der deutschen Justiz rechnen?

Sieber: Das ist im Moment die offenste Frage. Für den Provider, der
strafbares Material nicht nur weiterleitet, sondern es auf seinem eigenen
Server dauerhaft zur Nutzung bereithält, ist die Rechtslage höchst unsicher.
Das ist unabhängig davon, ob er sich in Deutschland oder im Ausland
befindet. Es gibt gute Gründe zu argumentieren, daß er sich nicht strafbar
macht. Das müßte man aber im Einzelfall erst genauer untersuchen.

SPIEGEL Online: Die Vorstellung, daß Felipe Rodriquez, Geschäftsführer von
"xs4all", Anfang Oktober auf eine Vortragsreise nach Deutschland kommt und
hier festgenommen wird, liegt also im Bereich des Möglichen?

Sieber: Er müßte nach den bisherigen Verlautbarungen der Bundesanwaltschaft
mit Ermittlungsmaßnahmen rechnen. Bei der Prüfung eines Haftbefehls und der
Anordnung von Untersuchungshaft wäre allerdings der
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu berücksichtigen. Ob der Sachverhalt für
eine Festnahme reicht, kann man aufgrund der bisher bekannten Umstände noch
nicht sagen.

SPIEGEL Online: Kommen wir zu den deutschen Internet-Service-Providern. Die
sind ja von der Bundesanwaltschaft unter erheblichen Druck gesetzt worden,
den Zugang zu dem Radikal-Angebot zu blockieren. Sind sie wirklich in
Gefahr, sich strafbar zu machen, wenn sie dieser Aufforderung nicht
nachkommen?

Sieber: Hier liegt die Angelegenheit meines Erachtens klarer: Ein Provider,
der strafbares Material nur durchleitet, also nur Gateway- und
Carrier-Funktion hat, ist aufgrund meiner Rechtsauffassung nach deutschem
Recht straflos. Es ist die gleiche Situation wie bei den Newsgroups. Dem
Provider kann nicht ein aktives Tun vorgeworfen werden. Der macht ja nichts,
sondern unterläßt es lediglich, den Zugang zu sperren. Und wenn man für ein
Unterlassen bestraft werden soll, dann ist die Voraussetzung dafür eine
gesetzliche Garantenpflicht, wie sie zum Beispiel Eltern gegenüber ihren
Kindern oder Lehrer gegenüber ihren Schülern haben. Auch für
Sicherheitspersonal, das bestimmte Gefahrenquellen zu überwachen hat,
besteht eine Garantenpflicht. Aber für einen Internet- Service-Provider, der
lediglich den Zugang zur Nutzung von Inhalten vermittelt, ist eine solche
Garantenpflicht meines Erachtens nicht gegeben, selbst wenn er weiß, was
passiert. Ich habe dies in einer ausführlichen Studie dargelegt, die Sie in
der Juristenzeitung (Hefte 9-10/1996) und im Internet finden. Diese
Auffassung ist allerdings gerichtlich nicht endgültig geklärt. Einzelne
Staatsanwaltschaften in Deutschland werden da möglicherweise eine andere
Auffassung vertreten. Das muß dann das zuständige Gericht und letztlich der
Bundesgerichtshof entscheiden.

SPIEGEL Online: Die Bundesanwaltschaft stellt sich auf den Standpunkt: Wenn
man die Provider nur auf die Strafbarkeit von Inhalten aufmerksam macht,
dann sind sie auch verpflichtet, für eine Sperrung dieser Inhalte zu sorgen.

Wenn man sich dagegen den § 5 des im Entwurfsstadium befindlichen
Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetzes anschaut, der ja für diese
Thematik einschlägig sein wird, so fällt auf, daß es dort neben der
Kenntnisklausel auch noch eine Zumutbarkeitsklausel gibt. Im
Referentenentwurf vom 28. Juni 1996 heißt es wörtlich: "Diensteanbieter sind
für fremde Inhalte, die sie zur Nutzung bereithalten, nur dann
verantwortlich, wenn sie von diesen Inhalten Kenntnis haben und es ihnen
möglich und zumutbar ist, deren Nutzung zu verhindern." Noch deutlicher ist
die dazugehörige Begründung. Dort heißt es, der Diensteanbieter habe "selbst
eine Verantwortung zu tragen, wenn ihm der einzelne, konkrete Inhalt positiv
bekannt ist und wenn er technisch in der Lage ist, diesen einzelnen Inhalt
derart zu sperren, daß eine Nutzung in seinem Dienst verhindert wird."
Weiter wird darauf hingewiesen, "daß hier nicht jeder denkbare Aufwand
gemeint ist, sondern daß die Bedeutung des Einzelfalls und der Aufwand sowie
die Auswirkung auf andere Teile des Dienstes im Verhältnis zueinander
gesehen werden müssen."

Diese Überlegungen, die hier in die kommende Gesetzgebung einfließen,
scheinen im Moment noch keine Handlungsgrundlage für die Staatsanwälte zu
sein. Ist das richtig?

Sieber: Ja. Der Gesetzentwurf ist natürlich noch nicht anwendbar. Die
Zumutbarkeit einer verlangten Handlung und die Existenz eines Vorsatzes sind
jedoch schon aufgrund allgemeiner strafrechtlicher Grundsätze erforderlich.
Aber nach meiner Rechtsauffassung kommt es auf diese Fragen der Zumutbarkeit
und der Kenntnis bei dem Provider, der nur Carrier- und Gateway-Funktion
hat, gar nicht an. Selbst wenn er die strafbaren Inhalte kennt und sie
sperren könnte, kann man die Sperrung zwar nach moralischen Grundsätzen
verlangen, aber nicht strafrechtlich erzwingen. Artikel 103 des deutschen
Grundgesetzes garantiert den Grundsatz "nulla poena sine lege" - Keine
Strafe ohne Gesetz. Das heißt: Um jemanden bestrafen zu können, reicht es
nicht aus, daß wir sein Verhalten mißbilligen oder für eine große
'Schweinerei' halten. Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem
die Strafbarkeit eine gesetzliche Grundlage verlangt, die das Parlament
verabschiedet hat. Und das Gesetz sieht zur Zeit einfach keine
Handlungspflicht für diesen Service-Provider vor. Und allein aus allgemeinen
Grundsätzen läßt sich eine solche Handlungspflicht nach meiner Meinung auch
nicht herleiten.

SPIEGEL Online: In der Diskussion ist wiederholt eine Parallele gezogen
worden zwischen dem Internet und dem Telefonnetz. Es wird argumentiert:
"xs4all" unterhält selbst telefonische Einwahlknoten, wir könnten uns
jederzeit über das Telefonnetz die problematischen Daten direkt aus den
Niederlanden holen. Müßte nicht die Bundesanwaltschaft in Analogie zu den
Maßnahmen bei den deutschen Internet-Service-Providern auch bei der
Deutschen Telekom vorstellig werden und sie auffordern, ihre
Telefonverbindungen zu "xs4all" auf die gleiche Weise zu sperren, wie es die
Internet-Service-Provider mit den Web-Adressen tun sollen?

Sieber: Ich gehe davon aus, daß die Telefongesellschaften für das, was über
ihre Leitungen läuft, ebenso wenig strafbar sind, wie die Internet-Provider
oder die Lufthansa, wenn sie Sextouristen nach Thailand transportiert. Ihr
Fall der Deutschen Telekom stützt daher die Argumentation, daß sich auch der
Carrier im Internet nicht strafbar macht. Wenn man sich dieser Meinung
anschließt, kommt man dogmatisch zu einem stimmigen Konzept. Wenn man
hingegen der Gegenauffassung folgt, muß man sich die Fragen stellen: Ist die
Rechtslage beim Telefon anders? Und warum soll sie anders sein?

Natürlich gibt es Unterschiede: Das Telefon ist mehr
Individualkommunikation, das WWW mehr öffentliche Kommunikation; die
Kommunikation über das Telefon ist flüchtiger, der Informationsaustausch im
Web ist stärker verkörpert. Aber es stellt sich eben die Frage, ob diese
Unterschiede juristisch das unterschiedliche Ergebnis tragen.

Wenn man den Vergleich zwischen dem WWW und dem klassischen Telefon
unbedingt machen möchte, würde ich ihn nicht zur Individualkommunikation
über Telefon ziehen, sondern zu den öffentlichen Telefon-Sex-Diensten. Wenn
man eine Sperrpflicht der Carrier im Internet bejahen würde, dann müßte man
in der Tat auch eine entsprechende Pflicht der Telekom annehmen, hier
bestimmte Inhalte zu sperren. Die Telekom müßte vor allem auch verhindern,
daß Kinder dort anrufen. Denn bei Kindern geht es ja schon um den Schutz vor
weicher Pornographie. Und die existiert in diesen Diensten sicher, das weiß
auch Telekom-Chef Ron Sommer. Mit mangelndem Vorsatz könnte er sich da nicht
herausreden. Man müßte dann konsequent auch gegen die Verantwortlichen der
Telekom vorgehen, so wie das die Schweizer Strafgerichte mit ihrem
zuständigen PTT-Direktor gemacht haben.

SPIEGEL Online: Das heißt also: Mal vorausgesetzt, daß die Forderung an die
Internet-Service-Provider rechtens ist, wäre auch eine Forderung an die
Deutsche Telekom rechtens, den Zugang zu solchen Ansagediensten zu sperren?

Sieber: Ja. Es sei denn, man ließe sich etwas einfallen, um die
Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. Aber ich sehe hier keine Möglichkeiten.

Aus diesem Grunde sollte man das Vorgehen gegen die Carrier und Gateways
unterlassen, wie dies auch das neue Informations- und
Kommunikationsdienste-Gesetz ausdrücklich vorsieht.

Mit dem Vorgehen gegen die Service-Provider kann man in der Sache auch
nichts ausrichten, sondern nur dem Industriestandort Deutschland schaden.

Wenn man wirklich etwas erreichen will, muß man sich auf internationale
Mindeststandards einigen und diese dann gegen die Urheber strafbarer
Äußerungen wirksam durchsetzen. Darüberhinaus sollte man ein
Selbstkontrollgremium der Wirtschaft schaffen, wie wir es zum Beispiel bei
der FSK in der Filmwirtschaft und beim Presserat haben. Das vorliegende
Problem erfordert kreative Lösungen. Es ist nicht damit zu beheben, daß man
die am leichtesten greifbaren Provider unter Druck setzt.

SPIEGEL Online: Herr Professor Sieber, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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