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Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft

1 BvR 2378/98 - Abweichende Meinung der Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt

<http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20040303_1bvr237898>

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Abweichende Meinung

der Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt zum Urteil des Ersten Senats vom 3. März 2004

- 1 BvR 2378/98 - - 1 BvR 1084/99 -

Wir stimmen dem Urteil unter C I nicht zu. Nach unserer Auffassung ist schon Art. 13 Abs. 3 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar und daher nichtig. Wohl aber tragen wir die Entscheidung unter C II bis IX mit, soweit sie jedenfalls die gesetzlichen Normen, die die akustische Wohnraumüberwachung mit technischen Mitteln zu Strafverfolgungszwecken regeln, für verfassungswidrig erklärt. 355 I.

1. Art. 79 Abs. 3 GG verbietet Verfassungsänderungen, durch welche die in den Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Zu diesen Grundsätzen gehört auch der Schutz der privaten Wohnung als Lebensraum zur höchstpersönlichen Lebensgestaltung, der zur Aufrechterhaltung einer dem Gebot der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde entsprechenden Ordnung unverzichtbar ist. Insoweit stimmen wir mit der Senatsmehrheit überein, die ebenfalls den Schutz der Menschenwürde in der in Art. 13 Abs. 1 GG verbürgten Unverletzlichkeit der Wohnung verankert sieht. Denn zur Persönlichkeitsentfaltung bedarf es Rückzugsräume, in denen der Einzelne ohne Angst vor Überwachung sich selbst zum Ausdruck bringen und mit Vertrauten über persönliche Ansichten und Empfindungen kommunizieren kann. Gerade in einer Welt, in der es technisch möglich geworden ist, so gut wie jede Bewegung und Kommunikation einer Person zu verfolgen und aufzuzeichnen, dient die Privatwohnung dem Einzelnen mehr denn je als letztes Refugium, in dem sich die Freiheit seiner Gedanken unbeobachtet manifestieren kann. Sie ist damit als Ort Mittel zur Wahrung der Menschenwürde. 356

2. Auch ist der Mehrheitsmeinung zunächst darin Recht zu geben, dass der absolute Schutz, der der Privatwohnung verfassungsrechtlich zukommt, nur so weit reicht, wie das in ihr ausgeübte Verhalten um der Menschenwürde willen geschützt ist: nicht jede Äußerung in einer Privatwohnung hat höchstpersönlichen Charakter. Dort aber, wo die Privatwohnung dem Ausdruck und Austausch persönlicher Empfindungen und Meinungen dient, ist ihr Schutz zur Wahrung der Menschenwürde absolut. 357

Allerdings ist es gerade wegen der Abgeschlossenheit einer Privatwohnung für einen Außenstehenden zunächst nicht erkennbar, ob zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihr höchstpersönliche Dinge oder aber solche zur Sprache kommen, die die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berühren. Wie im Urteil ausgeführt, gibt es für eine solche Unterscheidung lediglich Anhaltspunkte, die auf den Inhalt dessen schließen lassen, was in der Wohnung stattfindet. So lässt sich bei Privatwohnungen eher als bei Geschäftsräumen, bei Gesprächen mit eng Vertrauten eher als mit Geschäftspartnern oder Bekannten eine Situation vermuten, die dem höchstpersönlichen Bereich zuzuordnen ist. Gewissheit, ob dies zutrifft, bekommt man jedoch erst, wenn man die Abgeschlossenheit der Wohnung durchbricht und sich Kenntnis von dem verschafft, was in ihr passiert. Damit aber kann man schon in einen Bereich eingegriffen haben, der als intimer durch die eigenen vier Wände gerade absoluten Schutz erfahren soll. Forderte man für die Zuordnung einer Situation hinter verschlossenen Türen zum absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung eine jeweils konkrete Feststellung, hätte dies also zur Folge, dass stets ein Eingriff in diesen Kernbereich zunächst hingenommen wird, was Art. 79 Abs. 3 GG gerade verhindern soll. Um des Schutzes der Möglichkeit freier persönlicher Entäußerung willen zur Wahrung der Menschenwürde ist deshalb jedenfalls für Privatwohnungen, in denen sich der Beschuldigte allein, mit Familienmitgliedern oder mit ersichtlich engen Vertrauten aufhält, zu unterstellen, dass sie Raum bieten und genutzt werden für höchstpersönliche Kommunikation. Sie genießen deshalb umfassenden Schutz, wie ihn Art. 13 Abs. 1 GG gewährleistet. 358 II.

Art. 13 Abs. 3 GG überschreitet diese materielle Grenze, die Art. 79 Abs. 3 GG Eingriffen in die Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 GG setzt. Er ermächtigt zur gesetzlichen Einführung der akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen sich ein wegen besonders schwerer Straftaten Beschuldigter vermutlich aufhält, mit technischen Mitteln zum Zwecke der Strafverfolgung und ermöglicht so auch das heimliche Belauschen von Gesprächssituationen höchstpersönlicher Art. 359

1. Der mit Art. 13 Abs. 3 GG eröffnete Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung ist zwar an mehrere Voraussetzungen geknüpft, die ihn angesichts des hohen Ranges dieses Grundrechts (vgl. MdB Schily, 197. Sitzung des 13. Deutschen Bundestags vom 9. Oktober 1997, Sten. Ber. Band 189, S. 17685) auf das Maß begrenzen sollen, das notwendig ist, um die Organisierte Kriminalität effektiv bekämpfen zu können (vgl. Bundesminister der Justiz Schmidt-Jortzig, a.a.O., S. 17679). So darf eine akustische Wohnraumüberwachung nur bei auf Tatsachen gestütztem Verdacht der Begehung einer besonders schweren Straftat und auch nur als ultima ratio erfolgen. Sie ist zudem auf Wohnungen begrenzt, in denen sich der Beschuldigte vermutlich aufhält, ist zeitlich zu befristen und bedarf der Anordnung durch einen richterlichen Spruchkörper. Eingrenzungen, die sicherstellen könnten, dass bei Einsatz dieses Ermittlungsinstrumentariums der unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung geschützt bleibt, enthält Art. 13 Abs. 3 GG seinem Wortlaut nach jedoch nicht. 360

2. Es erscheint angesichts der zu seiner Einführung geführten parlamentarischen Debatten fraglich, ob der Gesetzgeber eine solche weitere Einschränkung der Wohnraumüberwachung überhaupt gewollt hat. Zwar ist richtig, wenn im Urteil darauf verwiesen wird, dass im Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 13 GG) ausgeführt wurde, dass bei einem Sachverhalt, der dem geschützten, unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung unterfällt, eine Überwachung von vornherein ausscheide und das höchstpersönliche Gespräch mit engsten Familienangehörigen am Schutz der Intimsphäre teilhabe, außerdem Gespräche mit Angehörigen verschiedener Berufsgruppen anderweitigen verfassungsrechtlichen Schutz genießen würden (vgl. BTDrucks 13/9660, S. 4). Änderungsanträge, die darauf abzielten, in Art. 13 Abs. 3 GG eine entsprechende Begrenzung aufzunehmen, sind jedoch mehrheitlich abgelehnt worden (vgl. a.a.O., S. 2 und 3). Auch in der darauffolgenden Lesung im Deutschen Bundestag wurde in einigen Debattenbeiträgen darauf verwiesen, dass weitergehende Beschränkungen des Einsatzes der akustischen Wohnraumüberwachung die Effektivität dieses Ermittlungsinstruments gänzlich in Frage stellten. So führte der Abgeordnete Geis (CDU/CSU) aus, bei einem Beweiserhebungsverbot für Gespräche mit Zeugnisverweigerungsberechtigten lohne sich das ganze Unternehmen einer Verfassungsänderung nicht (vgl. 214. Sitzung des 13. Deutschen Bundestags vom 16. Januar 1998, Sten. Ber. Band 191, S. 19519 f.). Diese Auffassung teilte der Abgeordnete Schily (SPD), der darauf hinwies, dass ein solcher Schutz des Gesprächs mit diesen Personenkreisen jede Maßnahme von vornherein ins Leere laufen lasse (vgl. a.a.O., S. 19545). Der damalige Innenminister des Landes Niedersachsen wies auf die Gefahr hin, dass Beweiserhebungsverbote für Gespräche mit Zeugnisverweigerungsberechtigten staatlich garantierte Schutzzonen für Schwerverbrecher etablieren und eine Handlungsanleitung bieten könnten, wie man seine Verbrechen am besten ungehindert von staatlichen Ermittlungen planen könne (vgl. a.a.O., S. 19552). 361

Auf einfachgesetzlicher Ebene ist zwar am Ende des Gesetzgebungsverfahrens in § 100 d Abs. 3 StPO noch ein Beweiserhebungsverbot für Gespräche mit den in § 53 StPO genannten Berufsgeheimnisträgern eingeführt worden. Für Gespräche mit nach § 52 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen hat sich dagegen lediglich ein unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit stehendes Beweisverwertungsverbot durchsetzen können, wobei Art. 13 Abs. 3 GG aber keine entsprechende Veränderung mehr erfahren hat. Selbst wenn man davon ausginge, dass diese Modifikation auf einfachgesetzlicher Ebene von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen gewesen ist, schon Art. 13 Abs. 3 GG enthalte insoweit eine immanente Schranke für den Einsatz der akustischen Wohnraumüberwachung, bleibt durch diese Grundrechtsnorm jedenfalls das höchstpersönliche Gespräch mit Familienangehörigen und engen Vertrauten vom verfassungsändernden Gesetzgeber ungeschützt, da es mit technischen Mitteln belauscht werden darf und lediglich seine Verwertung einfachgesetzlich unter Verhältnismäßigkeitserwägungen in Frage steht. 362

Folge davon ist, dass das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen teilweise ausgehöhlt wird, bietet doch ein Verwertungsverbot nur einen unzulänglichen Schutz. Die Kenntnisnahme von Gesprächsinhalten kann nicht ungeschehen gemacht werden und insofern das Verfahren der Strafverfolgungsbehörden gegen den Verdächtigen oder sogar gegen Dritte durchaus beeinflussen. Darüber hinaus werden unverdächtige Gesprächspartner des Beschuldigten, insbesondere wenn ihre Wohnung und nicht die des Beschuldigten abgehört wird, zum Objekt staatlicher Strafverfolgung, wenn ihre enge Verbundenheit mit dem Observierten und die zwischen ihnen in der Wohnung herrschende Vertrauensatmosphäre abgeschöpft werden. 363 III.

Wir können der Mehrheitsmeinung nicht darin folgen, dass der durch Verfassungsänderung eingeführte Art. 13 Abs. 3 GG durch verfassungskonforme oder verfassungssystematische Auslegung verfassungsfest gemacht werden kann. 364

1. Es ist richtig, dass gerade auch Verfassungsnormen der Auslegung bedürfen, nicht isoliert zu betrachten und so zu deuten sind, dass sie mit den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Wertordnung vereinbar sind (vgl. BVerfGE 19, 206 <220>). Bei der Frage, welche Grenzen einer Verfassungsänderung durch Art. 79 Abs. 3 GG gesetzt sind, geht es aber nicht um die Herstellung einer Konkordanz von bestehenden Grundrechtsnormen, sondern darum, ob die Änderung die in den Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt. Die Verfassungsänderung ist deshalb an diesen Grundsätzen zu messen, nicht dagegen mit deren Maßstäben auszulegen, um sie erst auf diesem Wege, abweichend vom Wortlaut in Konformität mit der Verfassung zu bringen. 365

a) Art. 79 Abs. 3 GG, der dem verfassungsändernden Gesetzgeber Schranken setzt, ist als Ausnahmevorschrift restriktiv auszulegen, um der Gefahr zu begegnen, dass über das Ausmaß einer Verfassungsänderung letztlich nicht das Parlament als dazu demokratisch legitimiertes Organ, sondern kraft Interpretation das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Allerdings kommt Art. 79 Abs. 3 GG die Bedeutung zu, bestimmte Grundentscheidungen des Grundgesetzgebers für die Dauer der Geltung des Grundgesetzes für unverbrüchlich und damit auch für den Verfassungsgesetzgeber unveränderbar zu erklären, weil sie Eckpfeiler unserer grundgesetzlichen Ordnung sind (vgl. BVerfGE 30, 1; Abweichende Meinung, S. 33 <38 f.>). Berührt eine Verfassungsänderung diese in Art. 79 Abs. 3 GG aufgeführten Grundentscheidungen, ist sie unzulässig, weil selbst verfassungswidrig. 366

b) Auch die Senatsmehrheit geht davon aus, dass die im Wege der Verfassungsänderung mit Art. 13 Abs. 3 GG eingeführte Ermächtigung zur akustischen Wohnraumüberwachung mit technischen Mitteln zum Zwecke der Strafverfolgung jedenfalls ausdrücklich keine ausreichende Begrenzung gefunden hat, um auszuschließen, dass gesetzliche Regelungen und darauf basierende Maßnahmen den Kernbereich privater Lebensgestaltung derjenigen verletzen, die akustisch überwacht werden dürfen, dass also Art. 13 Abs. 3 GG für sich genommen mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht in Einklang steht. Mit dem erklärten, faktisch so aber nicht erreichbaren Ziel, dennoch "das Risiko der Verletzung des Menschenwürdegehalts des Art. 13 Abs. 3 GG bei der Durchführung der Maßnahmen auszuschließen" (vgl. S. 49 des Urteils), fügt die Senatsmehrheit deshalb unter Zuhilfenahme einer systematischen Verfassungsauslegung des verfassungsändernden Gesetzes Art. 13 Abs. 3 GG weitere ungeschriebene Grenzen hinzu und engt damit die Ermächtigung zur akustischen Wohnraumüberwachung über das gesetzgeberisch gesetzte Maß hinaus ein. Dabei dient der Senatsmehrheit wiederum der Menschenwürdegehalt in Art. 13 Abs. 1 GG als Maßstab, anhand dessen die zusätzlichen ungeschriebenen Schranken des Art. 13 Abs. 3 GG im Wege der Auslegung gezogen werden. So aber verliert der Menschenwürdegehalt des Wohnraumschutzes seine Sperrwirkung gegenüber Verfassungsänderungen und dient nur noch dazu, als Interpretationshilfe einer ansonsten verfassungswidrigen Verfassungsänderung zu einem verfassungsgemäßen Bestand zu verhelfen. Gerade das, was in der verfassungsändernden Norm gar nicht geschrieben steht, gereicht dieser damit zur Überwindung der Hürde des Art. 79 Abs. 3 GG. 367

c) Art. 79 Abs. 3 GG zielt nicht nur darauf, dass bestimmte Standards in der Rechtsordnung eingehalten werden, sondern zuvörderst auf die Wahrung der von ihm aufgeführten Grundsätze in der Verfassung selbst (vgl. Lübbe-Wolff, DVBl 1996, S. 825 <834>). Selbst wenn man die Auffassung vertritt, dass Art. 79 Abs. 3 GG den verfassungsändernden Gesetzgeber grundsätzlich nicht hindert, grundrechtliche Gewährleistungen, auch wenn sie einen Menschenwürdegehalt haben, einzuschränken oder gar aufzuheben (vgl. BVerfGE 94, 49 <103 f.>), wenn und soweit der Schutz der Menschenwürde über Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet bleibt, muss man unseres Erachtens dennoch in der Einführung des Art. 13 Abs. 3 GG eine verfassungswidrige Einschränkung des Art. 13 Abs. 1 GG sehen, die gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstößt. 368

Art. 13 Abs. 3 GG selbst nimmt zunächst vom Grundrechtsschutz der Privatwohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG auch Bereiche aus, die den Menschenwürdegehalt dieser Norm betreffen. Damit entfällt deren Schutz aber nicht, erfahren diese Bereiche doch nunmehr unmittelbar Schutz aus Art. 1 Abs. 1 GG, der sich Einschränkungen und Abwägungen mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Belangen entzieht. Allerdings kommt es damit zu sich widersprechendem Verfassungsrecht: während Art. 1 Abs. 1 GG die in der Privatwohnung sich manifestierende Intimsphäre zur Wahrung der Menschenwürde umfassend schützt, lässt Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 GG, der als spezielle Vorschrift eigentlich insoweit Art. 1 Abs. 1 GG verdrängt, Eingriffe in diesen Bereich expressis verbis durch die Verfassungsänderung zu. Will man diesen Widerspruch im Wege der Verfassungsauslegung auflösen, muss dies um der Gewährleistung der Menschenwürde willen dazu führen, dass die vom Verfassungsgesetzgeber vorgenommene Verfassungsänderung inhaltlich weit zurückgenommen wird, obwohl dies in der geänderten Verfassungsnorm gerade nicht angelegt ist und in ihr auch nicht zum Ausdruck kommt. Sie setzt nach wie vor den Schein einer zulässigen Grundrechtseinschränkung, die den nach Art. 79 Abs. 3 GG gewährleisteten Verfassungsstandard nicht einhält. 369

Damit fehlt es aber zum einen an einer hinreichenden Bestimmtheit, was diese Verfassungsänderung eigentlich bewirkt und in welchem Umfang sie den Gesetzgeber zu Eingriffen in den Schutz der Privatwohnung ermächtigt. Zum anderen wird mit der Auslegung der Gehalt, den der Gesetzgeber der verfassungsändernden Norm gegeben hat, wieder verändert, ohne dass dies in der Norm selbst zum Ausdruck kommt. Eine solche Änderung ist aber ausschließlich Sache des Verfassungsgesetzgebers (vgl. BVerfGE 30, 1; Abweichende Meinung, S. 33 <38>). Nimmt dieser eine Grundgesetzänderung vor, die dem Maßstab des Art. 1 Abs. 1 GG allein nicht stand hält, verbieten es deshalb die Kompetenzzuweisung des Grundgesetzes und der rechtsstaatliche Grundsatz der Normenklarheit, die Verfassungsnorm durch Auslegung soweit einzuengen, dass sie die Hürde des Art. 79 Abs. 3 GG nehmen kann, dann aber kompensatorisch die einfachgesetzlichen Regelungen, die sich auf die in der geänderten Verfassungsnorm zum Ausdruck kommende Eingriffsermächtigung stützen, wegen Verfassungswidrigkeit zu beanstanden. So kann verfassungswidriges Verfassungsrecht nicht geheilt werden. Dies entspricht nicht Art. 79 Abs. 3 GG, der verhindern soll, dass durch Änderung des Grundgesetzes eine Grundlage in der Verfassung für Eingriffe in den Menschenwürdegehalt von Grundrechten geschaffen wird. 370

2. Die von der Senatsmehrheit angenommene Möglichkeit, die Verfassungsmäßigkeit einer verfassungsändernden Norm durch deren verfassungskonforme Auslegung herzustellen, schränkt außerdem den Geltungsbereich von Art. 79 Abs. 3 GG in unzulässiger Weise ein. Sie führt dazu, dass die von Art. 79 Abs. 3 GG für eine Verfassungsänderung gesetzten Schranken letztlich nur noch dort zu greifen vermögen, wo der verfassungsändernde Gesetzgeber sich anschickt, die föderale Ordnung, Art. 1 oder Art. 20 GG selbst in Gänze abzuschaffen. Denn ansonsten können - so lange es Art. 1 und Art. 20 GG in der Verfassung als Interpretationsmaßstab gibt - jeder Verfassungsänderung qua Auslegung im Lichte von Art. 1 oder Art. 20 GG ungeschriebene, immanente Schranken hinzugefügt werden, die ihr dann zur Verfassungsmäßigkeit verhelfen, sodass sie vor Art. 79 Abs. 3 GG stand halten. Der Grundgesetzgeber hat aber in Art. 79 Abs. 3 GG nicht lediglich eine Änderung beziehungsweise Abschaffung von Art. 1 und Art. 20 GG als unzulässig ausgeschlossen, sondern bereits eine, die die in diesen Artikeln niedergelegten Grundsätze berührt. Art. 79 Abs. 3 GG reicht also weiter. Er ist dazu bestimmt, schon den Anfängen eines Abbaues von verfassten Grundrechtspositionen zu wehren, die auf rechtsstaatlichen Grundsätzen beruhen oder der Sicherung der Menschenwürde dienen, und nicht erst dort zu greifen, wo der Rechtsstaat gänzlich aufgehoben werden und die Menschenwürde keinerlei Schutz mehr erfahren soll (vgl. BVerfGE 30, 1; Abweichende Meinung, S. 33 <47>). Damit aber Art. 79 Abs. 3 GG einer allmählichen Demontage der tragenden Grundpfeiler unserer Verfassung entgegenwirken kann, müssen Verfassungsänderungen beim Wort genommen und ihre eigenen Ermächtigungen des Gesetzgebers an den in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätzen gemessen werden. Werden sie berührt, bietet Art. 79 Abs. 3 GG keinen Raum mehr für eine verfassungskonforme Auslegung, die der unzulässigen Änderung im Nachhinein zur Verfassungsmäßigkeit verhilft. 371

Im Jahre 1971 haben die Verfassungsrichter Geller, v. Schlabrendorff und Rupp es noch als eine fernliegende, aber dennoch nicht ganz auszuschließende Gefahr angesehen, dass Art. 13 GG einmal dahin erweitert werden solle, dass "unter bestimmten Voraussetzungen Haussuchungen ohne Zuziehung des Wohnungsinhabers und dritter Personen vorgenommen und dabei auch Geheimmikrofone unter Ausschluss des Rechtsweges angebracht werden dürften" (vgl. BVerfGE 30, 1; Abweichende Meinung, S. 30 <46 f.>). 372

Inzwischen scheint man sich an den Gedanken gewöhnt zu haben, dass mit den mittlerweile entwickelten technischen Möglichkeiten auch deren grenzenloser Einsatz hinzunehmen ist. Wenn aber selbst die persönliche Intimsphäre, manifestiert in den eigenen vier Wänden, kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicherheitsbedürfnis Halt zu machen hat, stellt sich auch verfassungsrechtlich die Frage, ob das Menschenbild, das eine solche Vorgehensweise erzeugt, noch einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entspricht. Umso mehr ist Art. 79 Abs. 3 GG streng und unnachgiebig auszulegen, um heute nicht mehr den Anfängen, sondern einem bitteren Ende zu wehren. 373 Jaeger Hohmann-Dennhardt

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