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Re: [FYI] Historikertag: Verbandschef warnt vor Fixierung auf das Internet



On Wed, Sep 27, 2000 at 08:56:23PM +0200, PILCH Hartmut wrote:
> > Das Format ist nicht so sehr das Problem. Der Knackpunkt ist der Datentraeger.
> 
> Den Historikerverbandlern ging es um das Internet.  Welcher Datentraeger
> hinter einem URL steckt ist wohl egal.

Sofern es Backups gibt. Und selbst wenn: was ist bewahrenswert? 
Jede Aenderung von Schreibfehlern einer Webseite? Die Weiterentwicklung
einer Seite von HTML1.0 ueber Framemurks bis zur Flashig-bunten Animation?
Oder nur der reine Content? Bei dynamischen Seiten alle Zwischenzustaende
(vgl. Boersenkursseiten)? Wieviel % sammeln die Suchmaschinen und wieviele
tote Links halten sie bereit? Man bekommt nicht mal einen Bruchteil der
derzeitigen Netzkultur eingefroren. 

Heute fragt ein Historiker: wie war das damals vor fuenfzig Jahren?
Es gibt massenhaft an Sekundaerliteratur und sogar noch Zeitzeugen, die
sich mehr oder weniger genau erinnern.

In 50 Jahren fragt ein Historiker: wie sahen denn damals die Webpages
im Internet aus? Was bietet man ihm an? Ich vermute, man findet in der
Bibliothek noch ein Buch "HTML in 21 Tagen (mit Beispielen)". Zeitzeugen
gibts auch noch: "Also naeh, wie ich damals HTML geschrieben habe, dazu
kann ich jetzt nichts mehr sagen!" (ich denke zurueck an meine ersten
BASIC-, FORTRAN-, Assemblerprogramme - vielleicht 25 Jahre her, aber
viel habe ich da nicht zurueckbehalten). Eigentlich muesste ja alles
im Netz sein - ist es das? Ich suche eine bestimmte Software von 1993/94
(eine spezielle gcc-Variante fuer OS/2), laengst ersetzt worden durch
eine neue Version: die alte Version ist folgerichtig aus allen Archiven
getilgt worden. Das ist 6 sechs Jahre her. Und in 44 Jahren? Dass heute
irgendeine Site die Linux-Versionen von 0.01 bis dato konserviert, ist
nett, aber nur punktuell: ebenso zufaellig, wie beim Sammler von alten
Zeitschriften. Was heute nicht sammelnswert erscheint, ist morgen
verloren, obwohl es heute in Gebrauch und damit von Wert ist.

> > Es laeuft darauf hinaus, dass alles Wissen einer Generation permanent
> > umkopiert wird. Aber das passiert nicht. deja.com ist da noch nicht mal
> > in Ansaetzen eine Loesung.
> 
> Dort koennte ja die Aufgabe des Bibliothekars und Historikers von heute
> (oder wenigstens morgen) liegen.

Das ist eine Menschheitsaufgabe. Und damit unrealistisch.

> Wenn die Bibliothek physisch schrumpft, heisst das noch lange nicht, dass
> der Staat sich von den ihr zugrundeliegenden Aufgaben zurueckziehen kann.

Der Staat, der Staat. Ich hoere immer "Der Staat muss..., der Staat soll...,
der Staat hat zu..." Der Staat sind wir alle. Und damit regiert das
Prinzip der uns folgenden Sintflut, deutlich sichtbar am derzeitigen
Geschrei um den Spritpreis. Es braucht nur jemand einen billigen Motor zu 
konstruieren, der mit Holz laeuft (hatten wir schon vor 50 Jahren: 
Holzvergasung), und die Massen werden ggf. die Buechereien pluendern,
um weiter mit der eigenen Karre zum Klo fahren zu koennen. Und alle
werden froehlich auf der grossen Verbrennungsparty mitjubeln. Das einzige,
was "den Staat" derzeit noch abhaelt, ist, dass es uns noch zu gut geht.

> Er wird sich aber zurueckziehen, wenn die Historiker es versaeumen, die
> zugrundeliegenden Aufgaben zu erkennen.  Auf diese Weise haben sich schon
> manche Geisteswissenschaften selbst nahezu zerstoert.
> Verbandsfunktionaere als Totengraeber der eigenen Wissenschaft - ein nicht
> seltenes Muster.

In der Zeit war unlaengst ein Artikel ueber den Bruch des "Vertrages"
zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Die Gesellschaft hat entschieden,
dass sie eine Wissenschaft, die keine endgueltigen Wahrheiten liefern
kann, nicht mehr benoetigt. Dazu bedarf es keiner totengrabenden Verbands-
funktionaere mehr. In gleichem Masse, wie heute einige wenige Generationen
die fossilen Rohstoffe einfach verbrennen, wird man auch mit dem Rohstoff
Information umgehen. Wir schlagen uns zwar nicht mehr mit dem Morgenstern
die Koeppe ein, aber intellektuell hat sich seit dem Mittelalter wenig
veraendert.

Holger

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