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Re: Einfach nur Ueberforderung?



[...]
> Das ist nur ein weiterer Schritt in einer langen Reihe von
> gesellschaftlichen Veraenderungen weltweit, die alle auf
> technische oder rechtliche Weise Individual- und Buergerrechte
> immer weiter beschneiden: Der schleichende Verlust des Rechts
> auf Anonymitaet durch den Verlust anonymer Zahlungsmittel,
> Veraenderungen der rechtlichen Situation in Bezug auf
> Lauschangriffe in der Wohnung, zunehmende Ueberwachung von
> Telekommunikation und Installation von Videokameras zur
> Ueberwachung oeffentlicher Plaetze sowie hunderte von weiteren
> Kleinigkeiten.
[...]
> Mir stellt sich die Frage, welche tieferliegenden
> gesellschaftlichen Kraefte am Werk sind, die eine solche globale
> Entwicklung favorisieren?
> 
> Marit antwortete auf meine Frage quasi spontan, dass es sich
> ihrer Meinung nach um Ueberforderung handelt. "Denke doch einmal
> an Eltern", meinte sie, "die mit dem Verhalten ihrer Kinder
> ueberfordert sind und die dann anfangen zu pruegeln oder
> sonstwie autoritaer-blockierend reagieren." Stimmt das?
> 
> Beobachten wir global eine Flucht von Gesellschaften in die
> Autoritaet als Folge eines Strukturwandels im
> Kommunikationsverhalten und in der technologischen Basis der
> Produktion und Kommunikation? Handelt es sich schlicht um den
> Versuch von Staaten sowie der darin lebenden Individuen, die
> Auseinandersetzung mit diesen Themen durch und mit Gewalt zu
> verzoegern? Oder gibt es einen anderen, tieferliegenden Grund,
> der diese Entwicklung beguenstigt?

Ueberforderung ist sicherlich ein wesentlicher Grund fuer Buerger, nach
mehr Sicherheit und "dem starken Arm" zu verlangen. Es existiert durchaus
der Eindruck, dass z.B. die Verbrechensrate in den letzten Jahren rapide
zugenommen hat, selbst wenn statistische Erhebungen dazu keinen Anstieg
verzeichnet haben. Aber Themen wie Computerkriminalitaet und dabei die
unselige KiPo-Debatte sind jetzt besonders ins Licht der Oeffentlichkeit
gelangt, selbst wenn dieses Delikt seit Jahrzehnten in der Gesellschaft
vorhanden ist.
Negative Nachrichten bleiben eher im Gedaechtnis haften als positive - 
ein abgestuerzte Swissair-Jet ist eben eher eine Message als die Tatsache,
dass das fuer die Swissair der erste Unfall seit 19 Jahren ist.
Vermeintliche Katastrophenmeldungen, wie etwa ueber das Waldsterben, die
unlaengst von einem Schweizer Fachongress als Bloedsinn geoutet wurden,
verstaerken die allgemeine Unsicherheit, und Horrormeldungen ueber 4 Millionen
Arbeitslose lassen auch die Inhaber verhaeltnismaessig sicherer Arbeits-
plaetze zittern.

Es ist durchaus klar, dass es gesellschaftliche Gruppen gibt, welche solche
Aengste schueren, um auf diese Weise ihre diversen Ziele durchzusetzen.
Praktischerweise besitzt der Angst- oder Fluchtmechanismus eine positive
Rueckkopplung, und ist mithin selbstverstaerkend.

Ich denke aber, dass der Ueberforderungskomplex nur eine Facette der
Situation darstellt. Wesentlicher ist meiner Ansicht, dass die gesellschaft-
lichen Vorgaenge, mit denen wir hier zu tun haben, extrem lange Latenzzeiten
besitzen. Das haben diese Vorgaenge mit Veraenderungen in Oekosystemen
gemeinsam. Wie Du richtig sagst, sind die Veraenderungen schleichend:
mal hier ein wenig weniger Freiheit, mal dort etwas mehr Daumenschrauben,
aber nur in dem Masse, dass sich die Menschen daran gewoehnen koennen.

Das Menschenleben arbeitet mit Zeitzyklen, die viel zu kurz sind, um fuer
solche Aenderungen sensibel zu sein. Dennoch besitzen die Veraenderungen
einen kumulativen Effekt, und darueber hinaus - da steckt ein fatales Problem -
ein extremes Beharrungsvermoegen. 

Beispiel Recht: Ein grosser Teil unserer Basisgesetze ist 80 Jahre alt, 
oder aelter. Dennoch werden kaum veraltete Gesetze abgeschafft; stattdessen 
kommen immer mehr neue Patches und Fixes hinzu, um aus dem Ruder laufende 
neue Situationen zu flicken. Ein offensichtliches Beispiel ist etwa die 
rechtliche Behandlung des Diebstahls von Computerdaten, welche vom 
Diebstahlsparagraphen im StGB nicht abdeckbar ist, da Daten nicht wie 
Aepfel greifbare Objekte sind. Das gut gemeinte Nulla Poene Sine Legem 
wirkt hierbei als positives Feedback, um solche Strukturen komplizierter 
zu machen. Aehnliche Komplexe existieren zuhauf; Steuerrecht, Verwaltungs-
vorschriften, internationales Recht, aber auch der Wahn, dass die Wirtschaft
jedes Jahr ein positives Wachstum aufweisen muss, sind weitere Kreise, welche
ungebremst expandieren. 

Dieses funktioniert derzeit noch, weil die vielzitierten Grenzen des
Wachstums des Club of Rome zu pessimistisch waren und bislang nicht
erreicht worden sind. Tatsaechlich leben wir gesellschaftlich laengst auf
Kosten der folgenden Generationen, durch die Komplexitaet, die wir jetzt
aufbauen, und die erst in zehn oder mehr Jahren wirksam wird. Das ist aber
kein bewusster Prozess, und damit auch nicht direkt auf der Ebene der 
Individuen der Gesellschaft kontrollierbar und in eine bestimmte Richtung
hin lenkbar.

-- 
         Dr.-Ing. Holger Veit             | INTERNET: Holger.Veit"at"gmd.de
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