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Re: [FYI] FR: Gesetz zum Erhalt der französischen Sprache soll jetzt auch auf das Internet angewendet werden



Moin,

>> Jeder Informatiker, der ein System pflegt, bemueht sich, solche
>> Zweideutigkeiten, unnoetige Konfiguarationsoptionen und Ueberladungen zu
>> eliminieren und das System staendig schlank und effizient zu machen.

Nun im Gegenzug die "Mehrdeutigkeitkeiten" von Perl-Code zu feiern,
bringt nicht recht weiter. Die Diskussion kommt meines Erachtens nur
auf, weil ungeklaert ist, ob Netspeak (oh oh) auf Anwender-Level
weiterhin eine Fachsprache bleibt oder nicht. Da sich das Internet
gerade erst vom Minderheiten- zum Massenmedium gewandelt hat, koennen
noch beide Positionen aussichtsreich eingenommen werden. Wenn
Netspeak als eine Fachsprache betrachtet wird, dann ist eine
Reflexion ueber die verwendete Sprache ganz sicher angebracht, und es
stellt sich vernuenftiger Planungsehrgeiz ein. Wenn Anwender-Netspeak
dagegen keine Fachsprache bleibt, passiert was passiert und die neuen
Worte integrieren sich planlos.

Axiom 1: Systeme entstehen aus Paradoxien. 

Systeme operieren als zeitweise in Form (Form bedeutet 1. Draw a 
distinction! (George Spencer-Brown) 2. It is the difference that makes a
difference (Gregory Bateson, die einzig funktionierende, operative
Definition fuer das Bit).) gebrachte Paradoxien (ohne Formentstehung
sind es Nichts oder, falls zeitweise existent, Dilemmata).

Axiom 2: Es gibt kein Verstehen im Sinne eines Zur-Deckung-Bringens
von Gemeintem und Verstandenem oder von Ding und Wort.

Wenn A schweigt, nachdem B gesprochen hat, kann das fuer B bedeuten:
A hat verstanden. Es kann fuer B genau so bedeuten: A hat nicht
verstanden. Wenn A spricht, nachdem B gesprochen hat, kann A so
fortsetzen, dass B den Eindruck hat, er habe A verstanden. Oder auch
nicht. Dann wird darueber gesprochen. Diese Situation wird in der
Soziologie als "doppelte Kontingenz" bezeichnet. Gerade weil diese
Situation zeitpunktuell chaotisch ist, zumindest in Situationen
ungeregelter Begegnungen (also ohne dass ein schlagartig
strukturbildender Geldschein lugt oder eine betriebliche Hierarchie
fuer untergruendige Regelungen sorgt), entsteht ein System. Sprache
stellt ein Medium zur Verfuegung, sie ist dieses Medium, schlagartig
Anschluesse entstehen zu lassen, die die Beteiligten an Routinen
erinnern, die Systembildung ingangsetzen bzw. Systeme ingang halten.
That's all. Wenn Worte weitere Worte erzeugen, wie un- oder
missverstaendlich und mehrdeutig auch immer, funktioniert Sprache. An
Worten und Sprache ist einzig ihr Vermoegen relevant, weitere
kommunikative Anschluesse zu erzeugen oder entmutigen - vollkommen
abgesehen, ob nun tatsaechlich ein Wort verstanden wird oder nicht.

Fachsprachen erlauben im Unterschied zur Alltagssprachen, kleinste
kommunikative Unterschiede zu markieren, denen Spezialsprachgeuebte
groesste Bedeutung beimessen. Das besondere am Fachwort ist die
Eingrenzung des Sets an Nachfolgeworten. Fachworte allein produzieren
kein besseres Verhaeltnis von kommunikativer oder denkerischer
Abbildung und Wirklichkeit, sondern regulieren nur die staerker
eingeschraenkte/ einschraenkbare Zusammenstellung von Worten zu
Saetzen zu Absaetzen zu Modellen zu Theorien - die dann wieder auf
die Worte rueckwirken koennen. Fachsprache ermutigt weitere
kommunikative Anschluesse durch ein hoeheres Mass an Kontrolle -
Alltagsprache ermutigt weitere kommunikative Anschluesse durch ein
hoeheres Mass an Freiheit. Ein Vorteil von Fachsprachen ist, dass man
sehr frueh merkt, dass man nicht versteht (Laie). Ein Nachteil von
Fachsprachen ist, dass man sehr spaet merkt, dass man nicht versteht
(Experte). Dazwischen wird gesprochen.

Sprachsauberhalter verstehen Alltagssprache im Grunde zugleich als
Alltags- und als (kulturelle) Fachsprache (zur Aufrechterhaltung
vorgeblich nationaler/ mentaler Eigenheiten). Sprachpragmatiker
reagieren, so weit ich sehe, in der Regel sensibler auf den Kontext
und neigen eher dazu, einen Unterschied zu machen.

Gruss, Martin
-- 
Martin Rost - http://www.netuse.de/~maro/ - Germany, Kiel