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[FYI] Die Trivialisierung von Überwachung in der informatisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts



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Der Frosch im heißen Wasser

Detlef Nogala   25.10.2000

Die Trivialisierung von Überwachung in der informatisierten
Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

Die Reaktionsfähigkeit komplexer fortgeschrittener Gesellschaften
lässt sich in bestimmter Hinsicht mit denen von Fröschen vergleichen.
Wirft man eine solche Amphibie experimentehalber in heißes Wasser, so
wird der Frosch dieser unangenehmen Umgebung sofort zu entfliehen
versuchen und mit einem Satz heraushüpfen. Setzt man das sensible
Tier hingegen behutsam in ein mit Wasser gefülltes Gefäß und erhöht
die Temperatur nur ganz allmählich in kleinen Schritten, so wird es
die geringfügigen Veränderungen ertragen, sich jeweils an die
Erwärmung gewöhnen und schließlich so lange verharren, bis es am Ende
zu spät ist. Ein plötzlicher, starker Reiz löst als Kontrast der
Umgebungsbedingungen bei Lebewesen, so lernt man daraus, eine starke
aversive Reaktion wie Vermeidung durch Flucht oder Aggression aus;
wird der Reiz dagegen nur Schritt für Schritt verstärkt, treten
Anpassungs- und Gewöhnungseffekte ein, die sich auf längere Sicht
ungünstig auswirken.

So ähnlich, ist zu befürchten, verhält es sich mit dem
obrigkeitshalber zugemuteten Überwachungspegel in den hypermodernen
Gesellschaften: Während Orwells Vision "1984" in der öffentlichen
Kultur noch vor einer Generation nahezu einhellig als Schreckbild
empfunden und als warnende Dystopie verstanden wurde, ist die
technische Infrastruktur zur ubiquitär-panoptischen Ausleuchtung
individuellen und kollektiven sozialen Lebens zu Beginn des 21.
Jahrhunderts technisch weitgehend installiert und stößt nur noch
sporadisch auf ernsthaften und/oder organisierten Widerspruch, der
sich im Zweifelsfall jedoch politisch leicht marginalisieren lässt
oder in juristische Detailfragen von zugestandenen rechtlichen
Einfriedungen abgedrängt wird.

[...]

Der ursprünglich als zentrale Staatsveranstaltung gedachte 'Big
Brother' hat sich zellgeteilt und ist in die Gesellschaft
zurückgekehrt. Statt, wie im Benthamschen Panopticon zentrisch
angeordnet, organisiert sich Überwachungsmacht heute auf mehreren
Ebenen über viele größere und kleinere Netzknoten, die teils
staatlich, teils besitz- und eigentumsnützlich und in einigen Fällen
auch privatbürgerlich verfasst sind. Zum vielbeschworenen Polizei-
und Überwachungsstaat gesellt sich nun die entliberalisierte
Kontrollgesellschaft. Die vielen einzelnen, oft dezentralisierten
Kontroll- und Überwachungssysteme - jede für sich allem Anschein noch
sozial beherrschbar - sind dabei, sich zu einer Überwachungordnung
neuer Qualität zu verdichten, die sich vor allem durch ihre
technische Mediatisierung von bisherigen historischen
Überwachungsordnungen unterscheidet.

Dank technischer Erfindungsgabe, explodierenden Produktivkräften und
auch finanzstarkem Verwertungsinteresse vollzieht sich dieser Prozess
in einem atemberaubenden Tempo. Schon wächst heute eine komplette
Generation von Kindern wie selbstverständlich überwacht auf: Das
Babyphone zur akustischen Überwachung gehört genauso dazu wie
mancherorts die Web-Kamera im Kindergarten oder der Schule. Und die
Sicherheitsindustrie hat längst entdeckt, dass man nicht nur
Straffällige mit Ortungssystemen ausstatten kann, sondern auch
entführungsgefährdete Babys, quengelige Kinder beim Einkauf und allzu
unternehmungsfrohe Teenager.

Gegenwärtig scheint ein signifikanter Widerstand als Reaktion auf
diese Entwicklung, wie beispielsweise der Volkszählungsboykott der
frühen 80er Jahre, eher unwahrscheinlich zu sein - unwahrscheinlich
auch deshalb, weil Unterhaltungssendungen wie 'Big Brother' die
fortgeschrittene kulturelle Akzeptanz der ungestraften Überschreitung
von sozio-kulturellen Privatheits- und Zivilisationsschranken
anzeigen.

Paradoxerweise ist Überwachung in einer zunehmend individualisierten
Gesellschaft nicht mehr allgemein negativ besetzt - im Gegenteil, die
Forderung nach mehr Überwachung (zum Beispiel per Video auf
öffentlichen Straßen und Plätzen) wird unter dem Versprechen von
'mehr Sicherheit' auch von vielen der potenziell Überwachten gut
geheißen, weil sie sich in der Bilanz einen subjektiven
Sicherheitsvorteil versprechen.

Die Informatisierung der Alltagsbeziehungen sowie die Vielfältigkeit
der Kontrollprozeduren, denen wir unterliegen, führen im Verein mit
der Hypertechnisierung unserer Zivilisation dazu, dass das
Skandalierungspotential der 'Big Brother'-Metapher rapide abnimmt.
Solange sich Überwachung für eine große Mehrheit als zwar lästig und
bisweilen störend, vorläufig aber nicht wirklich gefährlich
darstellt, wird sie als neuer trivialer Bestandteil von Alltag
akzeptiert werden. Allerdings ist anzunehmen, dass diese Akzeptanz
rasch erodieren wird, wenn der gesellschaftliche Herrschaftskonsens
durch politökonomische Entwicklungen nachhaltig erschüttert wird und
Überwachung wieder deutlicher als das hervortritt, was sie ist: ein
technokratischer Versuch Konflikte zu managen, statt sie politisch zu
lösen.

Unterschätzen wir aber nicht den Frosch - er merkt vielleicht doch
noch zur rechten Zeit, was sich anbahnt und wie ihm geschieht.

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