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Re: [FYI] Misthaufen & Orale Tradition?



>>>>> Thomas Roessler writes:

>> "Das Lesen wird nicht völlig überflüssig,
>> aber mit der Vorfilterung durch die Sprachtechnologie
>> werden wir weniger Irrelevantes lesen", sagte der
>> wissenschaftliche Direktor des Deutschen
>> Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). Die
>> heute stark am Text orientierte Gesellschaft werde in
>> Zukunft wieder mehr Wissen mündlich weitergeben und
>> verarbeiten, wie dies vor der Erfindung des Buchdrucks
>> vor 500 Jahren der Fall war.

> Vielleicht sollte einmal jemand diese Herren daran
> erinnern, welch enorme Furcht einige der totalitären
> Regime des letzten Jahrhunderts (man denke an das Rumänien
> Ceaucescus [sp?]) vor Schreibmaschinen und Kopierern
> hatten - zu recht, übrigens.

Kontrolliert wurden alle Medien inkl. Radio und Fernsehen.

> Wissen ist, wie wir alle wissen, Macht

Der Gleichung misstraue ich. Wie oft handelt es sich um
Wissen um die eigene Ohnmacht?

> Wenn eine Gesellschaft leicht zu steuern und zu
> kontrollieren ist, dann eine, in der nur wenige wissen,
> und in der nur wenige in der Lage sind, Wissen
> weiterzugeben und zu rezipieren - und zwar ohne die
> Vermittlung eines kontrollierend eingreifenden Dritten.

Wissen allein macht nicht immun gegen
Manipulation/Kontrolle. Wird Faust nicht immer als
Nationaldrama der Deutschen verkauft: Wie der Wissende zum
Trottel wird?

> Tatsächlich könnte es sein, daß wir auf dem besten Weg hin
> zu einer solchen Gesellschaft sind.  Wir beobachten, daß
> die präzise Ausdrucksweise, die eine geschriebene Sprache
> ermöglicht und häufig überhaupt erst herausbildet, immer
> weniger verstanden - geschweige denn genutzt - wird.  Wir
> beobachten, wie eine Generation heranwächst, der jedes
> kulturelle und historische Gedächtnis fehlt - der damit
> aber zugleich auch die aus diesem Gedächtnis geborenen
> Ausdrucksmöglichkeiten fehlen.  Wer weiß heute noch, was
> ein Gang nach Canossa ist, und warum der so heißt?  Wer
> versteht "bezirzen"?  Wer weiß, was ein "Sirenengesang"
> ist?  Wer versteht, was es heißt, wenn jemand seine
> "Silberlinge" bekommt?  Ich würde diese Fragen lieber
> keinem durchschnittlichen Gymnasiasten stellen wollen.

Oh, bitte! Dieser Kulturpessimismus ist so alt wie die
Kultur.  Angeblich finden sich solche Aussagen bereits bei
den alten Ägyptern. Verlässlicher sind die Angaben zu
Platon, der mit dem Übergang zur Schrift(!) den Untergang
kommen sah.  Komischerweise hättest Du mich die Beispiele
als Gymnasiast fragen dürfen, aber nicht weil der Unterricht
das vermittelt hätte. (Abgesehen natürlich von Judas.)

> (Was brauchen wir Bibliotheksbrände und
> Bücherverbrennungen à la Alexandria, Granada [Spanier
> vs. Mauren] oder Sarajevo [zerstört wurden 1992 - 500
> Jahre nach Granada - u.a. große Teile der schriftlichen
> Überlieferung der nach Bosnien gelangten sephardischen
> Juden], wenn wir unser Wissen ausschließlich online
> aufbewahren?  Aber das nur am Rande.)

Man muss Bibliotheken nicht bombardieren oder abbrennen.  Es
reicht, Bücher in ihnen zu vergraben. Das zeigt sich,
sobald Du Bücher abseits der Wissenstrampelpfade
heraussuchst. Da greifen die Bibliothekare erst einmal zum
Staubtuch.

> Laßt uns also, liebe Freunde, die Dekadenz der -
> sterbenden? - europäischen Gesellschaft genießen,

Was sonst? Leg' Metzmacher auf und spaziere mit Lesages
hinkendem Teufel über den Dächern von Madrid. Der kann Dir
zur Dekadenz noch etwas erzählen.

> Vermutlich sollte ich einfach meinen Seneca aus dem Regal
> holen und das Latein mal wieder auffrischen....

Aber Du wirst Dir dann nicht ganz stoisch die Adern öffnen,
hoffe ich.

                        Patrick

-- 
Bei unserer Reise durch Italien sahen wir oft in verschiedene
Kirchen hinein, Meistens war es in ihnen sehr gemütlich, aber
schmutzig, weil das Plakat »Man bittet, aus Achtung für diesen
Ort nicht auf den Boden zu spucken« nur wenige respektierten.