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Was hat sich seit Kolle 1977 geändert?



> > Die damaligen Vorstellungen sind im genannten Kolle-Artikel von 1977 zu
> > finden.  Sie sind sehr modern.  Damals gab es auch schon Unix und TeX, und
... 
> TeX war bis Mitte 1979 nur in einem ziemlich kleinen Kreis
> bekannt; TeX82 und Metafont84 waren die ersten Implementierungen
> in WEB/Pascal, die leicht portierbar waren.
> 
> -> 1977 kannte Kolle bestenfalls Unix.

Danke für die Berichtigung.

Insgesamt gab es 1977 alles, was für die Swpat-Debatte wesentlich ist. Es
fehlte lediglich die PC-Revolution, die die Informatik noch weiter ins
Bewusstsein der Allgemeinheit rückte. An informatischen Neuerungen brachte
die PC-Revolution sehr wenig.  Alle wesentlichen Programmiersprachen waren
zu Kolles Zeit bekannt.  Die in vieler Hinsicht modernste
Programmiersprache, an der sich auch Sprachen wie Java und Python ständig
neu annähern, ohne das Vorbild zu erreichen, entstand in den 50er Jahren:
LISP.

Kolle begründete die Patentuntauglichkeit von Computerprogrammen gerade
damit, dass sie, anders als herkömmliche "Techniken", nicht einem
bestimmten Bereich zuzuordnen sind sonder alle Bereiche des
Gesellschaftslebens durchdringen und zunehmend durchdringen werden. Die
PC-Revolution bestätigte das nur.  Das einzig neue, was sie brachte, war
der Bedeutungsgewinn von proprietären "Programmprodukten" als unabhängige
Wirtschaftsgüter.  Das beflügelte tatsächlich die
Patentexpansions-Fraktion, wie man etwa dem Melullis-Artikel von 1998 sehr
gut entnehmen kann.  Man glaubte, das Modell der industriellen
Güterproduktion habe tatsächlich erfolgreich auf die Informatik
übergegriffen und müsse nun durch ein Patentwesen ergänzt werden.  Dass in
Wirklichkeit die Gewerbestruktur seit Kolle sich nur oberflächlich
verändert hatte, ahnen die meisten erst seitdem man in der Öffentlichkeit
Schlagworte wie "OpenSource" hört.  Und dass gerade die Welt der
proprietären Glitzerkartons gut ohne Patentrecht auskam wollten die
Patentkreise nicht wahrhaben.

Es gibt nichts in der späteren Argumentation der Patentierunsbefürworter
bis hin zu Lutterbeck/Horns, was nicht in den 60/70er Jahren bereits
diskutiert und vom Dispositionsprogramm-Urteil sowie Kolles Artikel
kraftvoll widerlegt worden wäre.  Das einzige, was wirklich neu
hinzugekommen ist, ist die Anfang der 80er Jahre begonnenen und Anfang der
90er Jahre weltweit voll durchgebrochene und kaum noch kontrollierbare
Patentinflation (http://swpat.ffii.org/stidi/tisna/), die einer im eigenen
Wettrüst-Dynamik folgte und nichts mit etwaigen Änderungen der Technik
oder des Innovationsprozesses zu tun hatte.

Hier noch mal Kolles Sicht von 1977:

   Nun, der Bundesgerichtshof hat sich, wie aus der eigentlichen
   Entscheidungsbegründung sowie den Überlegungen zu den Möglichkeiten
   einer Erweiterung des Begriffs der Technik oder eines völligen
   Verzichts hierauf klar hervorgeht, dieser Betrachtungsweise
   verschlossen und wird sich wohl auch in Zukunft kaum für sie erwärmen.
   Auch dafür gibt es gute Gründe. Zunächst würde ein weniger streng
   gehandhabter Unmittelbarkeitsgrundsatz, selbst wenn man ihn nur den
   datenverarbeitungsgerechten Rechenvorschriften zugutekommen lassen
   wollte, auf längere Sicht mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen,
   dass die Patentierbarkeitsvoraussetzung der technischen Lehre ihre
   Abgrenzungsfunktion einbüßte und allen Lehren für verstandesmäßige
   Tätigkeiten Schritt für Schritt der Patentschutz eröffnet würde. Vor
   allem aber sind erhebliche Zweifel angebracht, ob eine solche Ausnahme
   für das Gebiet der Informatik überhaupt vertretbar ist. Die ADV ist
   heute zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel in allen Bereichen der
   menschlichen Gesellschaft geworden und wird dies auch in Zukunft
   bleiben. Sie ist ubiquitär. Ist die Hardware-Industrie noch relativ
   leicht eingrenzbar, so gilt dies nicht mehr für die
   Software-Industrie, wo die Software-Hersteller ebenso sehr Anwender
   sind wie die überall zu findenden Software-Nutznießer auch Hersteller.
   Ihre instrumendale Bedeutung, ihre Hilfs- und Dienstleistungsfunktion
   unterscheidet die ADV von den enger oder weiter begrenzten
   Einzelgebieten der Technik und ordnet sie eher solchen Bereichen zu
   wie z.B. der Betriebswirtschaft, deren Arbeitsergebnisse und Methoden
   -- beispielsweise auf den Gebieten des Managements, der Organisation,
   des Rechnungswesens, der Werbung und des Marketings -- von allen
   Wirtschaftsunternehmen benötigt werden und für die daher prima facie
   ein Freihaltungsbedürfnis indiziert ist. Nach welchen Seiten hin auch
   immer aber ein patentrechtlicher Algorithmenschutz begrenzt würde --
   durch die Bindung an eine bestimmte Maschinenkonfiguration oder sogar
   an eine ganz bestimmte Datenverarbeitungsanlage, durch den
   Anwendungszweck und das Anwendungsgebiet --, so ist doch die Gefahr
   offensichtlich, dass dieser Schutz eine weit über das mit
   herkömmlichen technischen Schutzrechten verbundene Maß hinausgehende
   Sperrwirkung entfalten und die Benutzung von Datenverarbeitungsanlagen
   nachhaltig blockieren könnte. Das zugunsten der Patentfähigkeit von
   Algorithmen oft gehörte Argument, dass diese nur in Verbindung mit
   digitalen Rechenautomaten nützlich sind, hat eine Kehrseite, weil sich
   eben gerade aus dieser Tatsache ergeben kann, dass der patentierte
   Algorithmus dann die Benutzung von Computern überhaupt verwehrt, weil
   eine Substitution durch andere Mittel oder einen anderen Algorithmus
   nicht möglich oder nicht zumutbar ist. So besehen erscheint der
   Denkansatz einer notwendigen "Vergesellschaftung" der Informatik,
   zumindest der Algorithmen, durchaus plausibel, will man nicht den im
   Gefolge eines Algorithmenschutzes wahrscheinlichen ungeheueren
   privaten Machtzuwachs -- naiv oder bewusst -- leugnen.
   
   Diese wenigen Gesichtspunkte zeigen, dass die Beantwortung der Frage,
   ob und in welchem Umfang datenverarbeitungsgerecht konzipierte Rechen-
   und Organisationsregeln und andere Lehren für verstandesmäßige
   Tätigkeiten einen Ausschließlichkeitsschutz genießen sollen, Aufgabe
   der Rechtspolitik ist. Jedenfalls kann und darf es nicht Aufgabe der
   Gerichte sein, im Rahmen eines Einzelfalls eine rechtstechnisch und
   rechtspolitisch zwar vertretbare, in ihren Konsequenzen aber nicht
   überschaubare Entscheidung zu treffen. Das hat der Bundesgerichtshof
   wohl erkannt und in der Begründung auch klar zum Ausdruck gebracht.
   Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass der Gesetzgeber sich in
   absehbarer Zeit oder überhaupt mit dem Problem eines
   Ausschließlichkeitsschutzes für Algorithmen und ähnliche geistige
   Leistungen befassen wird, mag sich der Bundesgerichtshof den Vorwurf,
   konservativ, noch in der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts verhaftet
   zu sein, daher ruhig gefallen lassen. Denn ein konservatives,
   Rechtssicherheit erzeugendes Urteil ist für alle Betroffenen immer
   noch besser als ein vermeintlich fortschrittliches, das sich später
   als Danaergeschenk erweist.

Ich lasse mir daher auch gerne den Vorwurf gefallen, in der Gedankenwelt
des 19. Jahrhunderts verhaftet zu sein und nichts von der
"Verwissenschaftlichung des Erfindungsbegriffs" mitbekommen zu haben.  
Gerade das Patentwesen ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, und es kann
nicht Aufgabe von ein paar Patentjuristen sein, es nach Gutdünken oder
aufgrund der Einflüsterungen von Großkonzern-Patentstrategen wie Arno
Körber (http://swpat.ffii.org/vreji/papri/boch77-koerber/) oder Fritz
Teufel zu "modernisieren".  Der BGH hat vermessen gehandelt.  Melullis hat
Gott gespielt.  Ein wenig Konservativismus im Sinne des 17. Senates des
BPatG wäre definitiv eine Tugend gewesen.

-phm