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Re: Kontrollverlust
- To: debate@lists.fitug.de
- Subject: Re: Kontrollverlust
- From: M.DUECK@3LANDBOX.comlink.apc.org (Mario Dueck)
- Date: Mon, 19 Nov 2001 23:00:00 +0000
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Patrick Goltzsch meinte am 20.11.01 im Brett /ML/FITUG
zum Thema "Re: Kontrollverlust":
>> Da steht vieles Interessantes, aber wenig bis nichts von
>> der Unterscheidung von privat und öffentlich.
> Für mich ist der Aspekt der Kontrolle wesentlich.
Das hab ich verstanden und an diesem Punkt hatte ich zuvor auch schon
lange rumüberlegt - die Topologie ist bestimmt wichtig.
Ich denke aber, dass man das Ganze mehr vom Menschen und weniger von den
Möglichkeiten der Technik aus denken muss. Wichtig ist für mich dabei die
Idee vom Umbau der Kontrollgesellschaft zur Disziplinargesellschaft.
Tatsächliche Kontrolle ist nicht mehr so bedeutsam.
> Der
> Vorschlag ist, die Topologie des Kommunikationsnetzes, das
> ein Dienst bereit stellt, zu berücksichtigen. Im Web
> funktioniert die Kontrolle i.d.R. hervorragend, weil Sender
> und Verteiler den zentralen Knoten des Netzes bilden. Im
> Usenet hast Du eine Mischform aus dezentralisiertem und
> verteiltem Netz in dessen Knoten Sender/Empfänger/Verteiler
> zusammen fallen. Die Kontrolle wird unvollständig durch die
> dezentralisierten Bestandteile ermöglicht und ist
> schwierig.
Es kommt immer drauf an, aus welcher Perspektive man die Zentralität
beurteilt. Prinzipiell hast Du Recht, aber Newsserver können z.B. auch
viel zentraler sein, als Webserver.
Das klingt paradox? Ist es aber nicht: die Kontrollierbarkeit hängt
schlicht mit ihrer Anzahl zusammen, und meiner Wahrnehmung nach gibt es
immer weniger Newsserver und immer mehr Webserver. Das liegt auch an einer
Verbilligung von Telefonverbindungen und Bandbreiten, die es
unwirtschaftlich machen, lokal einen eigenen Newsserver zu betreiben und
zu warten (vgl. Newsserver der FUB; vgl. Entwicklungen in den
Mailboxnetzen). Wenn es in Deutschland nur noch 'ne Handvoll Newsserver
und Tausende von Webservern gibt, dann ist die Kontrolle der Newsserver
einfacher, eben weil die Struktur zentraler ist.
> Bei P2P stehst Du vor einem verteiltem Netz
> dessen Knoten ebenfalls alle drei Funktionen übernehmen.
> Kontrolle ist so gut wie unmöglich.
Abwarten.
Aber dass die Unkontrollierbarkeit das zentrale Element der P2P-Netze ist,
das ist natürlich offensichtlich. Solche Selbstermächtigungsversuche hat
es immer wieder gegeben, nimm nur mal das Modephänomen, auf Demos nur noch
mit schickem, schwarzem Integralhelm zu gehen (vgl. Putzgruppen-Fischer),
oder etwas später die Vermummung. Darauf wurde entsprechend reagiert und
das ist so heute kaum noch zu sehen. Überreaktion? Wenn ich an Haftgründe
bei den Genua-Demonstranten denke (schwarzes T-Shirt, drunter!!), dann in
jedem Fall.
> Du kannst das Private als den Bereich bezeichnen, den die
> Öffentlichkeit den Einzelnen zugesteht. Ein Teil des
> Zugeständnisses entsteht, weil nicht alles kontrollierbar
> ist. In diesem Sinne ist m.E. P2P eine Ausdehnung des
> Privaten, besser des nicht kontrollierbaren Bereichs.
Die massive Ausdehnung des Privaten löst eine ebenso massive Ausdehnung
des Öffentlichen aus. Denk mal an einen völlig anderen Bereich, in dem es
um zentral um diese Ausweitungen geht, den Bereich häuslicher Gewalt:
Vatter haut Mutter blau - besonders wenn er blau ist, dann haben sie
wenigstens etwas gemeinsam. Das ist eine Urszene des Privaten, denn
eigentlich ist alles, was in der eigenen Wohnung abgeht für den Staat
tabu. Und dennoch werden von der Öffentlichkeit (durch die Polizei) hier
inzwischen Platzverweise für prügelnde Ehemänner ausgesprochen.
Mit "unkontrollierbar" wäre ich vorsichtig; das System steht und fällt mit
der Kryptofrage. Und Krypto ist mit Sicherheit kein Naturrecht.
>> Ein wenig cookie-induzierter Individualisierungsklimbim am
>> Rande (Werbekram, persönliche Anrede) sollte dabei nicht
>> vom im wesentlichen gleichbleibenden Inhalt ablenken.
> Du untertreibst hier deutlich. Die Online-Broker sind schon
> relativ weit mit ihren persönlichen Accounts. Im Prinzip
> kann die Entwicklung darauf hinauslaufen, dass Dir ein
> persönlicher "Desktop" geboten wird.
Das interessiert mich nicht, ich habe einen persönlichen Desktop :-)
DIE wollen mich doch nur kennenlernen, daran habe *ich* kein Interesse
(vgl. klasse Foebud-Payback-Hack). Und außerdem sind die Inhalte die
gleichen. Woher sollten sie das Geld haben, extra und nur für mich Inhalte
bereitzustellen? Da kann ich dann vielleicht "personalisierte" Nachrichten
lesen, in dem Sinne dass ich eine bestimmte Zusammenstellung bekomme. Aber
wenn die Nachrichten weitergehend auch inhaltlich personalisiert, d.h. für
mich "frisiert" werden (vgl. Hauke), dann werden mich diese nicht mehr
interessieren, weil sie nicht mehr von allgemeiner Bedeutung sind. Eine
Nachricht ist als Inhalt umso interessanter, je mehr Leute genau diese
Nachricht rezipieren. Um das hinzubekommen braucht man eine hinreichend
lange Publishing-Pipeline mit Selektionen. (auch Gabriele Hooffacker
scheint das zu ahnen, ist aber noch nicht in der Lage, das zu formulieren;
bis dahin soll jeder einfach Journalist werden ..., vgl. ihren aktuellen
Artikel bei Telepolis. Von Computertechnikern hört man diesen Vorschlag
übrigens auch gerne: alle Nutzer sollen Techniker werden, dann wird die
Welt gut.)
> Frag die Australier, aber ich glaube es nicht. Die Löcher im
> Netz sind zu groß, als das unrealistische Gesetze irgend
> eine Wirkung entfalten könnten.
Totale Kontrolle erreichst Du mit Gesellschaft nie, trotzdem funktioniert
z.B. das Gewaltmonopol doch überraschend gut. Es funktioniert gerade
dadurch, dass nicht ständig Gewalt vom Staat eingesetzt wird, sondern auf
die kostengünstigere Variante der Drohung, Internalisierung etc.
zurückgegriffen wird. In China - um mal den unverschämten Blick in das
Reich des absolut Bösen zu werfen - scheint das bei der Internet-
Überwachung gut zu klappen, da ist zwar gelegentlich mal 'ne
öffentlichkeitswirksame Razzia in Internetcafés nötig, aber sonst halten
die sich da weitgehend an die Regeln - und der Staat braucht dazu nicht
mal Daumenschrauben und Fernsehverbot. Für Individuen scheint es sinnvoll
zu sein, sich an die umgebende Gesellschaft einigermaßen anzupassen. Da
gibt es je nach Gesellschaft mehr oder weniger Spielraum. Vgl. dazu heute
auch den Artikel über die Kontrolle des Internet in Kuba: http://www.fr-
aktuell.de/fr/120/t120004.htm
>> Öffentlichkeit herzustellen durch Bündelung von
>> Aufmerksamkeit.
> Glaubenssatz: Das Netz bewirkt insgesamt eine zunehmende
> Zersplitterung von Aufmerksamkeit.
Auf Glaubenssatz folgt Ideologiekritik:
Dann wird es uninteressant, weil massenhafte Individualkommunikation
wirklich nichts Neues ist. Je weiter Du bei der Gestaltung von
Inhaltsangeboten vom gedachten Pol "Öffentlichkeit" des Kontinuums in
Richtung des anderen Pols "Privatheit" gehst, umso weniger rechnet sich
das Anbieten von Inhalten. Und wenn man vom Kommerziellen mal weggeht wird
noch etwas anderes einsichtig: ich schreibe diese Mail nicht nur - privat
- an Dich. Das wäre viel zu aufwändig, in Relation zu dem, was ich damit
erreichen kann, wenn ich sie - öffentlich - an die Mailingliste schicke.
Autoren/Musiker wollen gebündelte Aufmerksamkeit, sie brauchen ein
Publikum, sie brauchen Öffentlichkeit.
> Und damit wären wir wieder beim Aspekt der Kontrolle. Der
> Preis dafür wäre ein PC der die Rolle des Televisors
> übernimmt.
Meine These ist: das Bedürfnis nach sozialer Kontrolle im Internet
verstärkt sich mit steigendem wahrgenommenem sozialen Kontrollverlust.
Gerade weil die soziale Kontrolle durch Individualisierungsprozesse
erschwert wird, steigt das Interesse an rabiater, technischer Kontrolle
(z.B. Filtertechnologie).
Ich bin übrigens echt mal gespannt, wieviele Leute auf deutschen Servern
die Inhalte von rotten, front14 etc. spiegeln werden, wenn Düsseldorf die
Sperrung nach MDStV anordnet. Helden und Freiheitskämpfer vor: "Zur
Kreuzigung - da lang. Und jeder bitte nur ein Kreuz!"
Gruß,
Mario
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