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Re: Kontrollverlust
- To: debate@lists.fitug.de
- Subject: Re: Kontrollverlust
- From: M.DUECK@3LANDBOX.comlink.apc.org (Mario Dueck)
- Date: Sun, 18 Nov 2001 23:00:00 +0000
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Patrick Goltzsch meinte am 19.11.01 im Brett /ML/FITUG
zum Thema "Re: Kontrollverlust":
> Vor einigen Jahren habe ich das für's Usenet versucht
> (http://www.minerva.hanse.de/use/225.html).
Da steht vieles Interessantes, aber wenig bis nichts von der
Unterscheidung von privat und öffentlich. Insbesondere die dort am Schluß
aufgestellte Hypothese vom "Schwinden der Grenzen zwischen interpersonaler
Kommunikation und Massenkommunikation" bleibt leider unreflektiert.
> Vor längerer Zeit hat Kristian das mal sehr anschaulich
> zerlegt. In Abhängigkeit von Software, Einstellungen,
> Cookies usw. kann eine Webseite sehr unterschiedliche
> Inhalte vermitteln.
Mir geht es nicht darum, was eine Webseite theoretisch kann, sondern um
eine Analyse tatsächlicher Nutzungen, eben um soziale Praxen, die sich im
Gebrauch der Technologie bilden. Interessant finde ich dabei nicht so sehr
die exotischen Varianten (HTTP-over-News-over-UUCP-over-TCP/IP-mit-PGP-
und-SSH-over-etc.), sondern solche, die von allgemeiner Bedeutung sind,
weil sie massenhaft auftreten - etwa einfache Webseiten.
Meiner Wahrnehmung nach ist die überwiegende Zahl von Webseiten auf
Öffentlichkeit hin konzipiert, in dem Sinne das mehrere - möglichst viele
Leute die selbe Seite, bzw. die selben Inhalte abrufen. Das macht
insbesondere ökonomischen Sinn, denn die Individualisierung von Inhalten
ist - mit zunehmender Perfektion - nämlich ein aufwändiges Geschäft, was
jeder weiß, der schon mal Serienbriefe erstellt hat, die über eine
Individualisierung von Adresse und Anrede hinausgehen. Es ist im
allgemeinen weniger aufwändig - und rechnet sich damit eher - vielen
Leuten gleiche Inhalte vorzusetzen. Ein wenig cookie-induzierter
Individualisierungsklimbim am Rande (Werbekram, persönliche Anrede) sollte
dabei nicht vom im wesentlichen gleichbleibenden Inhalt ablenken.
Um das mit der Individualisierung mal auf die Spitze zu treiben: Es wäre
doch theoretisch durchaus denkbar, dass uns etwa Herr Wickert abends
persönlich zu den Tagesthemen begrüßt - "Guten Abend Herr Goltzsch, hier
ihr persönlicher Nachrichtenüberblick." Womöglich wäre er aber auch schon
ein alter Mann, bis er all die individualisierten Anreden in die Kamera
gesprochen hat. Und zudem wäre es langweilig, wenn wir jeden Abend die
selbe aufgezeichnete Anrede über uns ergehen lassen müßten. Wenn schon,
dann möchte man das jeden Abend leicht variiert: "Hallo Herr Goltzsch, na,
wie geht's Ihnen? Sie sehen aber heut' aber etwas blass um die Nase aus.
Vielleicht muntern sie die Nachrichten ja etwas auf. - Afghanistan ..."
Also: Zuviel Individualisierung das hätte eindeutig den Nachteil, dass man
sich jeden Abend für Herrn Wickert schick machen, die Füße vom Tisch und
den Finger aus der Nase nehmen muss, wenn er mit dem Televisor
hereinschaut.
Kurzum: die Individualisierung ist aufwändig - und genaugenommen wollen
die Rezipienten sie auch nicht immer, denn sie hat nämlich auch Nachteile.
Dabei kann eine Analyse des Neuen an den neuen Medien uns auf Dinge
hinweisen, die wir an den alten Medien eigentlich ganz praktisch finden.
> Als die australische Regierung ihre
> Maßnahmen zur Zensur einführte, kursierte die Aufforderung,
> Adressen die zu gov.au (o.ä.) gehören, mit einer
> Standardseite ("Nicht für Zensoren") zu bedienen.
Lustig das. Und was hat das geholfen? Sind Gesetze zurückgenommen bzw. die
Maßnahmen eingestellt worden?
>> Da wird es nun interessant: getauscht wird offenbar
>> Musik, und zwar "alte", bereits veröffentlichte Musik,
>> nicht etwa Neues, Selbstkomponiertes,
>> Gesampeltes. Kann dieses System überhaupt beim Tausch
>> von neuer, d.h. gerade solcher Musik, die bisher nicht
>> veröffentlicht war, funktionieren?
> Was hat das mit dem Thema privat vs öffentlich und der
> Kontrolle zu tun?
Mir ging es allgemein um eine Bewertung dessen, wozu die Technologie
eingesetzt wird. Mit dieser weitergehenden Überlegung ging es mir darum,
ob die Systeme möglicherweise sinnvoll eingesetzt werden könnten, etwa um
für Musiker die von ihnen benötigte Öffentlichkeit herzustellen durch
Bündelung von Aufmerksamkeit. Das scheint mir aber nicht der Fall zu sein.
> Du hältst Dich außerdem an einem
> willkürlich herausgegriffenen Beispiel auf.
Beispiele haben es meistens so an sich, dass sie willkürlich
herausgegriffen sind. Ich hatte es dankbar als solches genommen, weil ich
mich - wie gesagt - länger nicht mit der tatsächlichen Nutzung solcher
Systeme beschäftigt habe. Es scheint sich aber nicht viel verändert zu
haben, oder? Braucht das immer noch so viel Bandbreite?
> P2P dient mir
> z.B. auch dazu, aktuelle Empfehlungen zu überprüfen. (Die
> Senderlandschaft von Rundfunk & Fernsehen erhebt das zur
> puren Notwendigkeit.)
Wenn es wirklich nur darum ginge, den Konsumenten etwas mehr
Bequemlichkeit zu verschaffen - dadurch, dass diese die Musik schon mal
anhören können, wozu sie bisher in den Laden rennen mussten, um sie dann
bei Gefallen später zu kaufen - wieso sollte sich die Musikindustrie dem
verweigern? Ich glaube aber, dass die Musiktauschbörsen in dem was sie
bewirken, deutlich darüber hinausgehen, bzw. die Leute ganz schön lange
brauchen, "aktuelle Empfehlungen zu prüfen" und darüber das Zahlen ganz
vergessen; es gibt da offenbar reale Umsatzeinbrüche. - Sonst würde die
Musikindustrie nicht so schreien. Legitime Interessen?
> Du kannst diesen Standpunkt ja gerne vertreten. Du solltest
> dann aber auch einen gangbaren Weg weisen. Wenn Du der
> Meinung bist, dass P2P-Dienste Öffentlichkeit herstellen und
> Urheberrechte verletzen, musst Du eine Handhabe vorweisen,
> dem Gesetz Geltung zu verschaffen.
Wie die genaue Rechtslage aussieht weiß ich nicht. Ich nehme nur den
Aufschrei von Seiten der Verwerter/Urheber wahr und versuche die
Legitimität der entgegenstehenden Interessen abzuschätzen. Die Diskussion
sollte dabei meines Erachtens auf der Ebene von Rechten der Beteiligten
geführt werden, nicht auf der Ebene von technischen Sachzwängen, die den
Charakter von Totmannschaltungen haben: "Ätschibätsch - keiner mehr
verantwortlich". Das führt über kurz oder lang zu einem kybernetischen
Wettrüsten und auch zu Überreaktionen (vgl. PGP-Verbot bzw.
Entschlüsselungszwang in Frankreich).
Handhabe? Elektronischer Verwaltungsakt, vollautomatisiert :-)
Wenn es nichts Spezialgesetzliches gibt: irgendwie in die Richtung
effektive Gefahrenabwehr nach Polizeirecht durch Inanspruchnahme von
Zustandsstörern (Client-Betreiber und/oder Accessprovider) aufgrund von
Störung der öffentlichen Sicherheit durch Standardmaßnahme
Identitätsfeststellung, Anhörung, desweiteren Sperrungsverfügung "binnen
Tagesfrist", Androhung der Beschlagnahme, elektronische Zurückweisung des
Widerspruchs, Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, grünes Taxi, freundliche
Befragung wegen Passwort, Androhung von Fernsehverbot, Lügendetektor,
Daumenschrauben, Androhung von Internetverbot .....
Gruß,
Mario
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