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Re: Kontrollverlust
- To: debate@lists.fitug.de
- Subject: Re: Kontrollverlust
- From: M.DUECK@3LANDBOX.comlink.apc.org (Mario Dueck)
- Date: Thu, 22 Nov 2001 23:00:00 +0000
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Patrick Goltzsch meinte am 22.11.01 im Brett /ML/FITUG
zum Thema "Re: Kontrollverlust":
> Sorry, späte Antwort.
Also, von mir aus kein Problem - wir sind hier ja nicht im Chat!
> Menschen entwerfen Technik, gebrauchen sie und verwenden sie
> immer wieder auf eine Weise, die im Entwurf nicht vorgesehen
> war.
Dazu die Techniksoziologie: "Unter Technisierung verstehen wir dann eine
besondere Form zweckgerichteter Schematisierung und geregelter Koppelung
von Elementen in einem künstlichen und abgeschlossenen System, die im
Medium von Handlungen, Symbolen oder Sachen fixiert wird, so daß mit einer
angestrebten Wirkung fest gerechnet werden kann." (Rammert 2000 S.72f.)
Nach dieser Definition ist Hacken - d.h. die nicht vorgesehene Verwendung
- das genaue Gegenteil von Technisierung. Es geht beim Hacken darum, die
Schematisierungen zu durchbrechen, d.h. Selbstverständlichkeiten wie etwa
vorgefasste Nutzungskonzepte radikal in Frage zu stellen. Hacker wollen
rausfinden *wie* etwas funktioniert, anstatt die Technik bloß wie
vorgesehen zu nutzen. Techniknutzung ist dabei der Normalfall, Hacken die
Ausnahme. Aber dauerndes Hacken ist anstrengend, und Hacker sind nicht
immer nur Hacker, sondern sehr sehr oft in ihrem Leben auch einfache
Techniknutzer, die sich auf vorgeschlagene Nutzungskonzepte einlassen.
>> Kontrollgesellschaft zur Disziplinargesellschaft.
> Was, bitte, sind das für Begriffe? Und wer baut um? In
> meinen Ohren klingen da Soziologeme von der "nivellierten
> Mittelstandsgesellschaft" bis zur "Risikogesellschaft" an.
Soziologie ist schon mal die richtige Schublade :-)
Diese Begriffe spielen in der Machttheorie von Foucault eine wichtige
Rolle. Die Gesellschaft baut sich selbst um. Aber Deine Rückfrage gibt mir
die Gelegenheit, einen grobes Mißverständnis zu korrigieren: es geht
selbstverständlich um den Umbau der Disziplinargesellschaft in die
Kontrollgesellschaft, in dem Sinne, dass Disziplinierung, d.h.
tatsächliche Eingriffe nicht mehr so oft nötig sind. Statt den eigenen
Willen ständig brachial, d.h. mit Disziplinarmaßnahmen durchzusetzen, wird
eine Kontroll-/Selbstkontroll-Architektur installiert. Die Menschen werden
von klein auf dazu gebracht, dass sie sich selbst kontrollieren, also so,
dass sie sich selbst unter Kontrolle haben, der fremde Wille wird zum
eigenen (Internalisierung). (vgl. dazu Foucaults Überwachen und Strafen,
aber auch Norbert Elias' Prozess der Zivilisation). Ich hatte mich da von
Deinem Kontroll-Begriff irritieren lassen, der ja offenbar tatsächliche
Eingriffsmöglichkeiten meint (die bei P2P-Filesharingsystemen nicht
vorhanden sein sollen). Ich hatte dagegen Kontrolle als ein dem Eingriff
vorausgehendes Element gemeint, also eher die Beobachtungsverhältnisse.
>> Platzverweise für prügelnde Ehemänner ausgesprochen.
> Nur, wenn sich einer an die Polizei wendet.
Es geht mir nicht um eine Analyse der genaueren Umstände des Einzelfalles,
sondern um eine gesellschaftliche Entwicklung, bzw. dieses Wechselspiel
der Ausdehnungsversuche. Das wirst Du ja mit diesem Einwand nicht wirklich
bestreiten wollen, oder? In NRW haben sich bestimmt auch Leute an die
Polizei gewandt wegen illegaler Internetinhalte. Wenn das kein Problem
wäre mit diesen Inhalten, dann würde sich auch nicht die Polizei (bzw. die
Bezirksregierung) drum kümmern.
>> Woher sollten sie das Geld haben, extra und nur
>> für mich Inhalte bereitzustellen?
> Da reden wir wohl aneinander vorbei. Wie Du auf Deinem
> Desktop eine Auswahl der Programme triffst (die nicht extra
> für Dich geschrieben wurden), erhältst Du auch bei
> Inhaltsanbietern Deine Auswahl von Neuigkeiten.
"Personalisiert" ist nur die Auswahl der Nachrichten, nicht die Nachricht
selber.
>>> Glaubenssatz: Das Netz bewirkt insgesamt eine zunehmende
>>> Zersplitterung von Aufmerksamkeit.
>> Auf Glaubenssatz folgt Ideologiekritik: Dann wird es
>> uninteressant, weil massenhafte Individualkommunikation
>> wirklich nichts Neues ist.
> Ich weiß nicht, was Du unter "massenhafter
> Individualkommunikation" verstehst.
Das hatte ich eigentlich versucht, in den letzten Beiträgen klarzustellen:
Individualkommunikation ist nicht-öffentliche Kommunikation mit
verteilten, extrem "zersplitterten" Aufmerksamkeiten, beispielsweise
Telefon und Email, Privat-Chats, aber auch andere hoch individualisierte
Dienste, wie z.B. bestimmte WWW-Dienste. Stell Dir ein Kontinuum zwischen
Öffentlich und Privat vor - das in der Rechtswissenschaft verwendete sieht
z.B. so aus: Rundfunk - Mediendienste - Teledienste - Telekommunikation.
Individualkommunikation wäre also eher am rechten Ende anzusiedeln. Die
einzelnen Bereiche sind nicht aus sich selbst heraus voneinander klar
abgegrenzt. Diese Grenzen werden sich aber mit der Zeit klarer
herauskristallisieren.
Massenhaft meint einfach nur, dass es sich um viele Kommunikationen
handelt, die aber miteinander nichts zu tun haben. Sie haben nur seriell
gemeinsam, dass es sich um Individualkommunikationen handelt.
> Netz-Dienste bringen
> bringen vielfach eine vollkommen neue Qualität der
> Kommunikation mit sich.
Ja, was ist denn nun das Neue? Ist das so Unsagbar?
> Sonst hätte die Musikindustrie, der
> Staat etc. keine Probleme.
Ich ziehe eine andere Perspektive vor: nicht die Musikindustrie und der
Staat "haben" Probleme, sondern "es gibt" ein Problem, weil Musikindustrie
und Konsumenten unterschiedliche Interessen haben (Geld), die wiederum der
Staat durch Regulierung auszugleichen versucht.
>> Meine These ist: das Bedürfnis nach sozialer Kontrolle im
>> Internet verstärkt sich mit steigendem wahrgenommenem
>> sozialen Kontrollverlust. Gerade weil die soziale
>> Kontrolle durch Individualisierungsprozesse erschwert
>> wird, steigt das Interesse an rabiater, technischer
>> Kontrolle (z.B. Filtertechnologie).
> Das kann so sein, aber die Frage bleibt: wie lässt sich
> wirksam kontrollieren?
Das werden wir jetzt in NRW sehen. Vielleicht ist das auch nur eine
öffentlichkeitswirksame Kampagne, um der Öffentlichkeit
Gesetzesverschärfungen (bspw. Kryptoverbot, Komplettspeicherung TK-
Verbindungsdaten) schmackhaft zu machen. Darauf deuten Propaganda-Elemente
hin, wie etwa der Umstand, dass Kritiker mit Rechtsextremen in Verbindung
gebracht werden. Rabiate Eingriffe wären dann zunächst nicht sofort,
sondern erst nach Gesetzesverschärfungen zu erwarten. Ansonsten scheinen
die Bußgelddrohungen der Bez.reg. schon bei denjenigen zu wirken, an die
sie gerichtet waren. - Meine (völlig von Heise abhängige) Wahrnehmung.
Gruß,
Mario
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