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Re: [FYI] Zypries verteidigt deutsche Abhörpraxis



At 11:32 17.05.03 +0200, Axel H Horns wrote:

>http://www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,druck-248875,00.html
>
>--------------------------- CUT --------------------------------
>
>Zypries verteidigt deutsche Abhörpraxis  
>
>Wird von deutschen Polizeibehörden zu viel abgehört? In der laufenden 
>Debatte um die steil steigende Anzahl von Telefonüberwachungen 
>zaubert Justizministerin Brigitte Zypries eine Studie aus dem Hut. 
>Die erteilt den Lauschern den kriminologischen Segen: Alles ist 
>relativ.  

als PDF unter http://www.aktiv.org/DVD/Pressemitteilungen/2003_03.pdf

--- snip --- 

Presseerklärung der Deutschen Vereinigung für Datenschutz e.V (DVD)

Datenschützer: Justizministerin irrt-
Telekommunikationsüberwachung bedarf umfassender Reform

Die Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD) zieht völlig andere
Konsequenzen aus dem soeben vom Max-Planck-Institut (MPI) in Freiburg
vorgelegten Gutachten über Effektivität und Defizite bei der
Telekommunikationsüberwachung (TKÜ). 
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries leitet aus diesem Gutachten 
ab, Telefonüberwachung in Deutschland sei "wirksam und maßvoll". Das 
Gutachten selbst kommt dagegen ausdrücklich zu ganz anderen 
Ergebnissen. Wohl stellt es fest, dass Deutschland nicht, wie bisher 
vermutet, "Weltmeister" im Abhören ist. Diese fragwürdige 
Auszeichnung verdient Italien, gefolgt von den Niederlanden und der 
Schweiz. Deutschland ist aber auch nicht "im Mittelfeld zu verorten" 
(Zypries), sondern nimmt den vierten Platz bei den Anordnungen im 
Verhältnis zur Wohnbevölkerung ein. Selbst bei der vorgenommenen 
Stichprobe kam es im Fall einer einzigen Anordnung zu 30.500 
abgehörten Gesprächen. In 21% der Anordnungen kam es immerhin zur 
Beobachtung von 1000 bis 5000 Gesprächen, in weiteren 8% zur 
Auswertung von mehr als 5000 Gesprächen. Es ist daher nicht
unrealistisch, wenn geschätzt wird, dass in Deutschland bei 21.974 
Anordnungen im Jahr 2002 mehr als 1,5 Mio. Menschen betroffen waren.

Übertriebene Euphorie stellt die DVD bei der Justizministerin auch 
bei der Bewertung der Effektivität dieser Überwachungsmaßnahme fest, 
wenn auf eine Anklagequote bei Telefonüberwachung von 58% und eine
Verurteilungsquote von 94% verwiesen wird. Eine genaue Analyse des
Gutachtens zeigt, dass zwar bei 60% der untersuchten Verfahren
Ermittlungserfolge zu verzeichnen waren, dass aber nur in 17%
unmittelbare Erfolge erzielt wurden. Der größte "Erfolg" lag in
"mittelbaren Erkenntnissen" (37%) mit vorrangig "Hinweisen auf
Straftaten Dritter". Angesichts der Schwere des Eingriffs muss nach 
der Qualität der Erkenntnisse gefragt werden. Da mutet es wenig 
positiv an, dass nur bei knapp 16% der Verfahren die 
Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) in der späteren Anklage oder im 
Urteil überhaupt eine Rolle spielte.

"Fahrlässig" sind nach Ansicht der DVD die politischen Konsequenzen,
die die Justizministerin aus dem Gutachten zieht. Sie meint, den
Richtern müsse eine detailliertere Begründung bei Anordnungen
abverlangt werden, mehr aber auch nicht. Das Gutachten des MPI 
bestätigt eindrucksvoll die schon in der Bielefelder Studie von
Backes/Gusy festgestellten Defizite bei der Begründung und der 
Prüfung von Abhöranträgen und die fast zu vernachlässigenden Zahl von
Benachrichtigungen der Betroffenen, obwohl hierzu eine fast 
uneingeschränkte gesetzlicher Pflicht besteht. Das MPI selbst schlägt
eine umfassende Reform der Überwachungsregelungen vor.

DVD-Vorsitzender Dr. Thilo Weichert: "Bei der dringend nötigen Reform
der Telekommunikationsüberwachung ist zu berücksichtigen, dass das
Kommunikationsverhalten mit Handys sowie per Email und SMS derzeit
einem gewaltigen Umbruch unterworfen ist. Der Straftatenkatalog, der
TKÜ zulässt, muss bereinigt werden und im Hinblick auf Schwere und 
Art der aufzuklärenden Straftaten nach anderen als 
Tatbestandsbedingungen präzise definiert werden. Als Hausaufgabe hat 
das MPI dem Gesetzgeber aufgegeben, das regulatorische Chaos bei der 
TKÜ so zu bereinigen, dass die Ermittlungsinstanzen das Recht auch 
tatsächlich anwenden können und die Betroffenen und deren Verteidiger 
es auch nachvollziehen, um sich hierauf berufen zu können. Die 
nachträgliche Benachrichtigung der Betroffenen ist nach der 
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine unabdingbare 
Verfahrensvoraussetzung für die Zulassung der TKÜ.
Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass diese auch effektiv umgesetzt 
wird.

Absolutes Muss ist - so auch das MPI - eine begleitende Wirkungs- und
Wirksamkeitskontrolle der Überwachung. So wichtig die Erkenntnisse 
des MPI-Gutachtens sind, so spiegeln sie nur eine Momentaufnahme - 
v.a. von Verfahren aus dem Jahr 1998 mit einer Überwachungstechnik 
mit erheblich geringerem Erkenntniswert als heute - wieder. Der 
Grundrechtsschutz in diesem dynamischen Bereich setzt voraus, dass 
unabhängige Instanzen - z.B. Richter oder auch Datenschützer - in den 
laufenden Verfahren die Wirkungen der TKÜ beurteilen und, dass 
hierüber in statistischer Form berichtet wird. Völlig inakzeptabel 
sind die Pläne der Bundesregierung, im Rahmen der Novellierung des 
Telekommunikationsgesetzes die statistischen Berichtspflichten 
abzubauen. Wer es wirklich ernst meint mit der Abwehr von Tendenzen 
hin zu einem Überwachungsstaat - so die Erklärung von Zypries -, der 
bzw. die muss gerade staatliche Geheimermittlungen wie die TKÜ einem 
dauernden demokratischen "check and balance" aussetzen."
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[..]

--- snap --- 



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