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Re: Das Stuttgarter Linkurteil: Eine Verschwörung dummer Juristen?



"Thomas Stadler" <ts@cplus.de> schrieb:

>Der Artikel von Oliver Gassner ist letztlich auch in sich 
>widerspruechlich. Einerseits geht er davon aus, dass die Richterin 
>ueber ausreichend Netzkompetenz verfuegt, andererseits bemaengelt er, 
>die Verteidigung haette in der muendlichen Verhandlung nicht genuegend 
>Argumente fuer den meinungs- und kunstrelevanten Kontext von odem.org 
>und Freedomfone geliefert. Das passt nicht zusammen.

Warum nicht? 

Ausreichend Netzkompetenz bedeutet doch nicht unbedingt, daß sich das
Gericht auch automatisch einer bestimmten Rechtsauffassung bezüglich der
Frage, ob hier Kunst, Satire oder staatsbürgerliche Aufklärung vorliegt,
anschließen müßte. 

Es ist auch nicht in in Ordnung, Olivers Artikel auf ein paar
fragwürdige Vorschläge zur Prozeßtaktik zu reduzieren. Ich finde ich
dort beispielsweise einige Bemerkungen über die anscheinend belustigte
Reaktion der Richterin auf das Stichwort "Sperrverfügungen". Die
Versuche der StA, den Angeklagten wahlweise in die rechte oder KiPo-Ecke
zu stellen, sind ins Leere gegangen (ob solche Spielchen das Gericht
beeindrucken, wage ich zu bezweifeln). Und - wie ich bei einem anderen
Beobachter las - das Verteidiger-Plädoyer muß wohl auch anwesende
forensische Profis überzeugt haben. 

Und dann endet die ganze Geschichte mit einer Verurteilung - muß sich da
einem unbefangenen Leser der ganzen Diskussion hier nicht die Frage
aufdrängen, ob da beim Auftreten des Angeklagten etwas in die Hose
gegangen ist? 

Bei allem Verständnis über die Aufregung, schließlich geht es hier um
eine Vorstrafe. Aber angesichts der genannten Umstände wäre es jetzt
allmählich einmal an der Zeit für etwas Selbstkritik.

>Wenn die Richterin ueber ausreichend Netzkompetenz verfuegt, dann
>hat sie sich sowohl online als auch ueber die Akte ausreichend mit 
>den Inhalten von odem.org vertraut gemacht und braucht keine 
>ergaenzenden Sachverhaltserlaeuterungen durch die Verteidigung. 

Da haben wir das Dilemma des ganzen Falles (und noch etwas mehr) in
einem Satz.

Wir haben hier eine Menge von n Leuten, die sich in und mit dem Medium
WWW gut auskennen, ein gewisses Vorverständnis über dessen soziale
Bedeutung mitbringen und deshalb eine dezidierte Meinung über den
Vorgang haben, um den es hier geht. 

Diese Personen werden jetzt mit einer Sichtweise zum selben Sachverhalt
konfrontiert, die - wie man nach den verfügbaren Informationen annehmen
kann - im totalen Gegensatz zu der obigen Position steht. 

Und dann findet man das Erklärungsmuster : Das Gericht habe a.) keine
Ahnung, jedenfalls b.) seine Arbeit nicht richtig gemacht, es sei c.)
voreingenommen gewesen oder d.) - sinngemäß - sowieso nur mit Absicht an
die Sache herangegangen, "so einem" einmal einen Denkzettel zu
verpassen. Von dem, was man im Usenet und in Foren sonst noch so alles
zu hören bekommen, rede ich mal gar nicht.

Ich kann mich auch noch gut an die Zeit nach dem Somm-Urteil erinnern,
als ich mich damals mit ein paar befreundeten Juristen über jenes Urteil
gestritten habe. Diese Leute sind nun keinesfalls innenpolitische
Eisenfresser - eher schon das Gegenteil. Trotzdem begrüßten sie das
Urteil damals.

Nach all dem scheint mir das Problem nicht so sehr beim Gericht zu
liegen. Vielmehr darin, daß hier eine prekäre Monokultur gedeiht. 


-ut

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