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Das Internet wird totgeschrieben



  Das Internet wird totgeschrieben

  Erschienen in der PC-Online 7/96, S. 147

  Geht es Ihnen nicht auch so? Mich nervt die penetrante
  Berichterstattung in der Tagespresse, im Rundfunk und in
  Boulevardblaettern ueber das Internet. Nicht nur, weil das Internet
  dem Blaetterwald zufolge ein digitales Versteck fuer alle abartigen
  Menschen, Zocker und Verbrecher dieser Welt ist, sondern auch diese
  Unkerei ueber den angeblichen - jawohl - angeblichen Datenstau.

  Zugegeben - zur Rush-hour, Prime Time oder wie auch immer Sie die
  hektische Zeit fuer Web-Surfer bezeichnen moegen, logge ich mich schon
  gar nicht mehr ein. Aber wuerden Sie gleich das gesamte Strassennetz
  der Erde zusammenbrechen sehen, nur weil es zwischen Muenchen und
  Salzburg oder auf anderen populaeren Streckenabschnitten deutscher
  Autobahnen regelmaess zu Superstaus kommt?

  Ich wohne in der Naehe von Rosenheim, fahre also taeglich nach
  Muenchen auf der Salzburger Autobahn ueber den Irschenberg nach Hause.
  Ich kann mich erinnern, dass ich auf den 300 x 2 (hin und zurueck)
  Touren pro Jahr vielleicht zwei- oder dreimal in einem Schneetreiben
  oder wegen eines Unfalls in einem nennenswerten Stau laenger
  steckenblieb. Und trotzdem lege ich beinahe 50 000 Kilometer im Jahr
  zurueck.

  Wie das wohl geht? Ganz einfach. Ich nehme die Autobahn so wie sie ist
  und stelle mich darauf ein.  Genauso ist es mit dem Internet. Bislang
  habe ich immer noch alle Web-Sites gesehen und alle Downloads
  bekommen, die mich wirklich interessierten. Und zwar mit meinen
  privaten Accounts, wie sie jeder Otto Normalsurfer auch hat. Nur damit
  Sie nicht glauben, ich haette daheim eine megabreite Standleitung ohne
  Gebuehrenzaehler.

  Wie ich das schaffe? Ganz einfach. Ich surfe dann, wenn nicht gerade
  halb Deutschland unterwegs ist. Und ich vertraue darauf, dass die
  meisten Internet-Provider Geld verdienen wollen und deshalb
  Schwachstellen im Netz sehr wohl erkennen und moeglichst rasch beheben
  - von einigen schwarzen Schafen wie Protel und Co. oder halbherzigen
  Staats-Aktivitaeten wie Bayern Online einmal abgesehen.

  Stellen Sie sich vor, ganz selbstverstaendlich wuerden alle deutschen
  Autofahrer erwarten, dass saetliche Autobahnen in Deutschland von
  heute auf morgen auf dreispurig umgebaut werden - wenn moeglich,
  natuerlich ohne Baustellen und peknuniaere Konsequenzen.

  Manchmal verstehe ich die Welt nicht mehr. Da passieren in einem
  Jahrzehnt mehr technische Wunder als in hundert Jahren zuvor. Trotzdem
  werden die Leute immer unzufriedener. Und warum?  Weil sich die
  schlechte Nachricht wohl doch immer noch am besten verkauft. Oder wie
  soll ich es mir anders erklaeren, dass ich nun schon seit Monaten
  immer wieder denselben Muell ueber das Internet lesen muss?

  Moechten Sie vielleicht als Autofahrer mit Geisterfahrern,
  Geiselgangstern oder Drogendealern in Verbindung gebracht werden, nur
  weil sie zufaellig auch gern und gut Autofahren und dieselben Strassen
  benutzen?

  Fuer mich ist das Internet nur eine von vielen Moeglichkeiten, mir
  mehr oder weniger effektiv das Leben zu erleichtern. So wie mein
  Computer auch nur ein Mittel zum Zweck ist.  Vielleicht sollten sich
  die verantworlichen Redakteuere jenseits der Fachpresse einfach mal
  selbst so ein Ding mit Internet-Anschluss zulegen und halbwegs
  ernsthaft damit arbeiten.

  Thomas Jannot, Chefredakteur