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Re: Paradigmenwechsel...



Kurzzusammenfassung der Diskussion bisher, da sie
mittlerweile einige Zeit her ist: Kris sprach von der
Möglihckeit, daß Netzteilnehmer in absehbarer Zeit die
Publikation von Inhalten auf eigenen per Standleitung
angebundenen Servern realisieren können und
Publikationshilfen keine relevanten
Mehrwertdienstleistungen der Provider mehr seien. Insofern
gehe der derzeitige Ansatz im deutschen Recht und im
Jugendschutz, Mittler der Veröffentlichung anzugreifen,
ins Leere.

Ich hatte dem eine duale Betrachtungsweise
entgegengehalten: Entscheidend sei nicht die technische
Verfügbarkeit von Informationen, sondern das Wissen der
Abnehmer über diese Tatsache, i.e., Links, Gruppennamen
etc.  An dieser Stelle, hatte ich gefolgert, böten sich
Möglichkeiten an, über eine juristische Erfassung des
Linkenden, der dem Leser überhaupt erst die Information
über die Existenz eines Zugangs zukommen läßt, z.B.
Rating-Systeme oder auch eine recht weitgehende
Inhaltekontrolle zu ermöglichen.

Ich schrieb:

> >Wir müssen davon ausgehen, daß der Urheber einer
> >Link-Liste auch für den von ihm verlinkten Inhalt haftbar
> >ist, wenn sein Link wesentlich zur Verbreitung dieses
> >Inhalts beiträgt.

Kris darauf:

> Wir muessen auch davon ausgehen, dass mit der Zunahme der
> dynamisch erstellten und individualisiert erzeugten
> Webseiten das Ziel eines Links fuer jeden Abrufer anders
> aussieht, je nachdem welche P3P- und SIG-Praeferenzen er
> eingestellt hat, 
...

> Damit ist das Link-Ziel letztendlich kein "Punkt" mehr,
> sondern ein ziemlich breit verschmierter Fleck, fuer den
> ich nicht verantwortlich gemacht werden _kann_.

Warum nicht?  Eine Seite, die einen zufällig sich
verändernden Inhalt bietet, werde ich im Normalfall nicht
verlinken (es sei denn als netten Gag).  Es mag sein, daß
häufig genug kein spezieller Inhalt mehr gelinkt wird,
sondern ein Dienst.  Auch ein solcher Dienst hat jedoch
einen Sinn und Zweck.  Handelt es sich dabei z.B. um einen
Dienst, der je nach Präferenzen des Abrufers verschieden
harte (bzw. "interessante"), jedenfalls aber
"unerwünschte" Inhalte bietet, so kann ein Link zu diesem
Inhalt durchaus Gegenstand einer rechtlichen Würdigung
sein.

> Und schliesslich: Zielt Inhaltskontrolle wegen des
> Wegfalls der Mittler nicht mehr auf die Inhalte selbst,
> sondern auf die Kataloge, werden die Inhalte selbst
> dadurch nicht schwerer erreichbar. Jemand, der mit
> Gleichgesinnten kommunizieren _will_, wird sich dabei
> nicht von irgendwelchen Bestimmungen aufhalten lassen,
> sondern letztlich seine Sprache und seine Eigenbewertung
> der Inhalte so anpassen, dass er von denen, die sich
> ebenfalls fuer seine Sache interessieren, auch gut
> gefunden wird.

Das ist die Idee der "Mikroöffentlichkeit", die ich oben
im Usenet-Kontext gelöscht hatte.  (Du sprachst dort
davon, daß Bekanntenkreise peer-to-peer-Links aufbauen
könnten und auf diesem Wege ein Feed unproblematisch zu
bekommen sei.)  Diese Mikroöffentlichkeiten interessieren
jedoch nur begrenzt, sie sind (meistens) nicht wirklich
"gefährlich".

Damit sie gesellschaftliche Wirkung entfalten, müssen
entweder

- die Beteiligten über hinreichend reale Macht verfügen.
  Ist das der Fall, haben wir ohnehin kein Thema mehr für
  eine an "Medien" orientierte Betrachtung, sondern Filz,
  Lobbyarbeit oder was auch immer.

- oder die über die Mikroöffentlichkeit kommunizierten
  Inhalte einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht
  werden.  Dies erfolgt üblicherweise durch
  Multiplikatoren, die einer weiteren Öffentlichkeit
  zugänglich sind _und_ von ihr _wahrgenommen_ _werden_.

Diese Wahrnehmung durch Massen ist es, um die es mir geht:
Ich rede nicht von der halbkonspirativen Kommunikation à
la CL, die außerhalb nur wenige interessiert.

Ich spreche also von einer Makroöffentlichkeit, die dafür
sorgt, daß weite Bevölkerungskreise bestimmte Inhalte
wahrnehmen.

Man könnte jetzt argumentieren, um eine solche
Makroöffentlichkeit gehe es beim Jugendschutz nicht.  Das
ist bedingt richtig, allerdings ist das grundlegende
Problem ein ähnliches: Jugendschutz beschäftigt sich nur
sehr bedingt mit Inhalten, die innerhalb einer
Mikroöffentlichkeit von Gleichgesinnten ausgetauscht
werden - im Gegenteil: Jugendschutz befaßt sich mit
Inhalten, die die Grenzen dieser Mikroöffentlichkeit
überschreiten, einer Mikroöffentlichkeit, deren Teil
Jugendliche nicht sein dürfen.

> Ausserdem wird sich die Anzahl der Kataloge vervielfachen
> (Es werden mehr kleinere, special interest Kataloge
> entstehen. Nicht alle werden die klassiche Form einer
> Suchmaschine oder einer Linkliste haben). Allgemeiner: Die
> Definition von Oeffentlichkeit wird flexibler.

Nein.  Die Definition von Öffentlichkeit ist schon jetzt
flexibel.  Schau' einmal unter Impressumspflicht in die
verschiedenen Pressegesetze.  Du wirst dort finden, daß
Werbeschriften, Vereinszeitungen und dergleichen von
diesen strengen Verpflichtungen befreit sind.
Mikroöffentlichkeiten eben.  Deren Kontrolle ist - ihrem
überschaubaren Rezipientenkreis entsprechend - wenig
interessant.

> Mikrooeffentlichkeiten sind nicht fest: Sie existieren
> nicht statisch an einem Ort fuer Jahrzehnte wie Sender
> oder Verlage. Aendert sich das Klima, aendern sich andere
> Randbedingungen, zieht ein grosser Teil der Gemeinschaft
> weiter an einen anderen "Ort", um sich dort niederzulassen
> und einzurichten. Die Gruppe ist dabei sehr flexibel und
> kann nicht nur "Location", sondern auch Medium und
> Zugangskriterien wechseln (aus einer Newsgroup auf eine
> halb-geschlossene Website, dann in eine Mailingliste).

Mit einem solchen Szenario hätte der Jugendschützer schon
einen großen Teil seines Ziels erreicht: Die fraglichen
Inhalte sind innerhalb der Mikroöffentlichkeit verfügbar,
von außen jedoch nur noch schwierig zu lokalisieren.
Sobald sie zum "Problem" wird, kommt sie fast zwangsweise
auch in den öffentlichen Focus - und wird wiederum ihre
Flexibilität nutzen, um umzuziehen.  Resultat: Die
Teilnehmer sind unter sich, der Inhalt ist eben nicht mehr
für jedermann auffindbar.

> _Ich_ bin ein Katalog - wer will meine Bookmarks und mein
> Killfile haben? -> Grouplens-artige Software
> (Durchschnitts- und Vereinigungsmengenbildung ueber die
> persoenlichen Praeferenzen einer Mikrooeffentlichkeit)
> fuehrt zur Synchronisation einer Gemeinschaft ohne eigene
> Inhalte zu haben und ein zentraler, oeffentlicher Katalog
> entsteht -> wieder kommt es zu Mittlerfreiheit und damit
> zur Implosion des rechtlichen Rahmens.

Du machst an dieser Stelle einen Denkfehler.  Nimm' z.B.
einen Dienst wie GroupLens.  Die Bewertungen innerhalb
dieses Dienstes müssen über einen möglichst weit
verfügbaren Kanal abgeglichen werden - sei es nach dem
Flood-Fill-Verfahren, sei es (wie bei GroupLens) über
zentrale Server.  Im Resultat kann dieser Kanal von
praktisch jedem genutzt werden - z.B. auch für die
Kommunikation von Ratings, die sich auf
Jugendschutzrelevanz beziehen und nicht auf das Interesse
innerhalb einer entsprechend interessierten
Mikroöffentlichkeit.  Eine Kontrolle der Rezeption des
Inhalts durch weite Kreise, die mit entsprechender
Software auszustatten wären, ist damit weiterhin möglich.

> >Anstelle der technischen Infrastruktur-Provider werden
> >zusehends die Awareness-Provider ins Zentrum von
> >Kontrollbestrebungen rücken.  Sie bilden einen viel
> >effektiveren und (der beschränkten Bandbreite des
> >Verbrauchers wegen) auch überschaubareren Angriffspunkt.

> Du denkst wieder "wenige grosse Anbieter"...

Nein, ich denke "viele kleine Abnehmer". :-) Das
beschränkte Zeitbudget dieser Abnehmer wird, zusammen mit
der unterschiedlichen Qualität der Anbieter, schnell zu
einer Konzentration der Abnehmer auf wenige große Anbieter
führen.

> Klar wird dies die Bildung von Mikrooeffentlichkeiten zu
> (an einigen Stellen unerwuenschten) Spezialthemen nicht
> verhindern, ja nach einer Startphase nicht einmal
> nennenswert behindern.

Das habe ich nicht behauptet, das war aber auch nicht das
Thema. ;-)



Ich schrieb außerdem über die Probleme, die sich mit
Kommerz über die Grenzen von Rechtsordnungen hinweg
ergeben und dadurch die Rezeption von kommerziell zur
Verfügung gestellten Inhalten und Diensten aus anderen
Rechtsordnungen erschweren könnten.

Patrick Goltzsch dazu:

> An welche Dimensionen denkst Du? Ein Privataccount mit den
> üblichen Diensten kostet bei Offshore auf Anguilla 60 DM /
> Monat. Deswegen Regreßforderungen stellen?

Ich denke an eine Fehlabbuchung von einer Kreditkarte, die
von dem Kreditkartenunternehmen nicht zurückverfolgt wird.
Den Anspruch hättest Du in diesem Fall gegen Deinen
Geschäftspartner.  Viel Spaß, wenn der 6000,- DM statt
60,- DM abgehoben hat und in Panama sitzt.


Zu der Bemerkung, ein Rating könne sowohl zur Senkung wie
auch zur Erhöhung der Wahrnehmbarkeit dienen und sei daher
für alle Seiten (Anbieter und Jugendschützer) lohnend,
schreibt Patrick:

> Die Betonung von "_beide_" scheint zu implizieren, ein
> großer Nutzerkreis halte sich an gemeinsame Kriterien und
> Autoren müssten mit diesen konform gehen, um in diesem
> Kreis wahrgenommen zu werden.

Nicht ganz.  Ich nehme die "Schmutzlisten", die so gerne
als Argument gegen ein Rating gebracht werden, als
Feature, nicht als Bug: Der Anbieter bekommt durch das
Rating eine bequeme Möglichkeit an die Hand, gezielt eine
große Zielgruppe anzusprechen.  Die Zielgruppe kann auf
einfache, standardisierte Weise ("sex >= 3, violence >=
4") die betreffenden Inhalte wahrnehmen, während die
außerhalb dieser Zielgruppe liegende Makroöffentlichkeit
("sex < 4, violence < 4") die Inhalte nicht mehr
wahrnimmt.

Auf diesem Wege würden erwünschte Rezipienten _und_
Jugendschützer profitieren.  Es könnte daher auf Dauer für
Anbieter ökonomisch sinnvoll sein, ein normiertes, in
beide Richtungen nutzbares Rating zu verwenden.

tlr
-- 
Thomas Roessler · 74a353cc0b19 · dg1ktr · http://home.pages.de/~roessler/
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